Beschützer von Hirten und Herden
Sankt Wendelin ist der Patron der Bauersleute. Darum begegnet man ihm häufig auf der Luzerner Landschaft: in Kapellen, an Stalltüren oder auf Bildstöckli. Wer war der Heilige und welche Bedeutung hat(te) er für die Bevölkerung?
«Es ist wichtig, dass man Vertrauen hat», sagt Anna Blum (91). Sie kam früher jeden Sonntag mit ihren Kindern in die Wendelinskapelle Gerislehn auf dem Menzberg, um eine Kerze anzuzünden. Bild: Roberto Conciatori
«Ich bin wieder in meinem Heiligtum», sagt Anna Blum (91) und strahlt, als sie die kleine Gerislehnkapelle betritt. Diese liegt auf dem Menzberg und ist dem heiligen Wendelin geweiht. Ein farbiges Wandgemälde von ihm befindet sich über einem Altar. Darauf stehen frische Blumen und Statuen von Jesus und Maria. An der Seitenwand eine grosse Statue von Bruder Klaus. «Jeden Sonntag, wenn mein Mann im Stall das Vieh melkte, kam ich mit den Kindern hierher, um ein Kerzlein anzuzünden», erzählt die Menznauerin, die unweit der Kapelle mit ihrem Mann einen Bauernhof führte. «Zu Wendelin nahm man Zuflucht, man betete zu ihm, und wenn eine Kuh krank war, liess man einen Batzen runter», erzählt sie. Das Gebet kann sie heute noch auswendig:
«Heiliger Wendelin, der du einst die Haustiere behütet und gepflegt hast, zu dir nehmen wir unsere Zuflucht und bitten dich: Erhöre unser Gebet.»
Vom Schafhirt zum Abt
Doch wer war dieser Heilige, dem man auf der Luzerner Landschaft auf zahlreichen Bildstöcken, an Ställen und im Betruf begegnet?
Bildstock an einem Feldrand in Schüpfheim. Bild: Imelda Corradini
Der Legende nach wurde Wendelin um 550 als schottischer Königssohn geboren. Mit 20 pilgerte er nach Rom, doch auf der Rückreise ging ihm im heutigen Saarland das Geld aus. Er fand Arbeit als Schafhirt und suchte jeden Tag eine neue Weide für seine Schafe. Eines Tages hatter er sich weit vom Landgut seines Herrn, eines Edelmanns, entfernt. Dieser wurde zornig, weil er abends ein Schaf schlachten wollte und fürchtete, Wendelin werde nicht rechtzeitig zurück sein. Als der Edelmann jedoch heimkam, war der Hirte mit den Schafen schon dort.
St.-Wendelins-Kapelle in Roggliswil. Bild: Annemarie Schaller
Aus Schuldgefühl liess er für Wendelin eine Einsiedelei bauen. Mönche aus dem nahe gelegenen Tholey (heute Bistum Trier) hörten vom frommen Leben Wendelins und wählten ihn zum Abt ihres Klosters. Dies blieb er bis zu seinem Tod.
So weit die Legende. Geschichtlich verbürgt ist, dass Wendelins Grab im heutigen St. Wendel nahe Tholey schon früh als Heilstätte verehrt wurde. Über seine Person sei kaum etwas gesichert, sagt Josef Muheim. Der frühere Landwirt aus Greppen ist ein profunder Wendelin-Kenner. Er hat ein Buch über die Wendelinskirche von Greppen verfasst, im Pfarreiarchiv befindet sich seine Dokumentation über Wendelinsvorkommen in der ganzen Schweiz: Artikel, Broschüren und Fotos zu Wendelinskapellen, -kirchen oder Bildstöcken sind fein säuberlich in Sichtmäppli abgelegt. Viele dieser Orte hat er pesönlich besucht.
Für sein Engagement bei der Renovation der St.-Wendelins-Kirche in Greppen erhielt Josef Mu-heim eine Kopie der Wendelinsstatue. Bild: Sylvia Stam
Viel Schutz nötig
Wie aber kam es, dass ein schottischer Königssohn im Kanton Luzern so verehrt wurde? «Vermutlich wegen dem Viehpatronat», sagt Muheim. Alois Selzer beschreibt in seinem Buch «St. Wendelin» – laut Muheim ein Standardwerk –, wie sich in der Landbevölkerung im Mittelalter «agrarische Schutzheilige» entwickelten: «Hirt und Bauer können nicht genug Schützer haben für ihr Vieh.» Und das Grabheiligtum Wendelins lag in einer sehr ländlichen Gegend. Das Viehpatronat erweiterte sich laut Selzer im Verlauf der Jahrhunderte zum allgemeinen Patronat der Bauersleute: «St. Wendelin ward Bauernheiliger, Helfer in allen bäuerlichen Anliegen der Stube und des Stalles, der Felder und der Flur, besonders als Wallfahrtsheiliger ist er dem christlichen Landvolk in seinem ganzen Kulturraum lieb und wert.» Davon zeugen im Kanton Luzern zahlreiche Kirchen und Kapellen (siehe Kasten).
Wirtshausschild des ehemaligen Restaurants St. Wendelin in Lieli. Bild: Dominik Thali
Tatsächlich hat die Verehrung Wendelins in der Volksfrömmigkeit mehr Fuss gefasst als in der Liturgie. Josef Muheim erinnert sich an die Wallfahrten der umliegenden Pfarreien nach Greppen. Zwar gebe es vielerorts noch Wendelinsbruderschaften, doch meist hätten die einst religiösen Vereinigungen heute die Funktion einer Sennengesellschaft. Ein Grund dürfte die Säkularisierung der Gesellschaft sein. Muheim erwähnt die Impfung gegen die Maul- und Klauenseuche, die in den 60er-Jahren aufkam, als Grund dafür, weshalb die Verehrung von St. Wendelin nachgelassen hat.
Anna Blum freut sich, dass auch ihre Kinder und Enkelkinder ab und zu im «Chäppeli» eine Kerze anzünden. Bild: Roberto Conciatori
Die zahlreichen Rückmeldungen auf einen Aufruf im «Pfarreiblatt» zeugen allerdings davon, wie sehr Wendelin im Kanton Luzern nach wie vor «lebt». «Es ist wichtig, dass man das Vertrauen hat», sagt Anna Blum dazu. «Man braucht eine Stütze im Alltag.» Umso mehr freut sie sich sehr, dass auch ihre Kinder mit deren Kindern und Enkelkindern ab und an im «Chäppeli» beim Wendel ein Kerzchen anzünden gehen.
Die Wendelinskapelle Gehrislehn. Bild: Roberto Conciatori
Fast ein Luzerner Heiliger
St. Wendelin gilt als Patron der Hirt:innen und Herden, der Bauerlsleute und des Viehs. Im landwirtschaftlich geprägten Kanton Luzern sind die Pfarrkirchen von Greppen, Hellbühl und Schwarzenberg dem heiligen Wendelin geweiht. Greppen gilt als die bekannteste Wendelinskultstätte. Bedeutende Wendelinskapellen gibt es in Altwis, Egg-Entlebuch, Krumbach, Lieli, Roggliswil und Wauwil. Feldkapellchen finden sich u. a. in Aesch, Fischbach, Gelfingen, Gunzwil, Gerislehn (Menzberg), Letten (Reiden), Rickenbach, Rippertschwand (Neuenkirch), Witwil (Beromünster) sowie die Tscholinkapelle in Malters. Verehrt wird Wendelin – zusammen mit anderen Heiligen – in Kapellen in Gattwil, Gibelflüh, Gormund, Rüediswil und Flühli.