Damit Mamas Stimme bleibt

Der Verein Hörschatz ermöglicht sterbenskranken Eltern, ihre Biografie für ihre Kinder als Tondokument aufzunehmen. Das kostenlose Angebot hilft den Hinterbliebenen genauso wie denjenigen, die Abschied von ihrem Leben nehmen müssen.

Von Sarah Stutte |  14.02.2022

Ein Hörvermächtnis für ihre Kinder war ein Herzenswunsch der krebskranken Wanda Wiser. Bild: Verein Hörschatz

Wenn Oliver Wiser von seiner Frau Wanda spricht, nimmt seine ruhige Stimme nochmals einen besonderen Klang an – einem inneren Lächeln gleich. Vielleicht, weil er sie vor seinem geistigen Auge sieht, während er bedacht die Worte formt. «Wanda war ein sehr warmherziger und grosszügiger Mensch. Sie hatte tschechische und slowakische Wurzeln, und dieses Temperament ist immer ein wenig bei ihr durchgebrochen. Die Familie war ihr sehr wichtig. Sie war zielstrebig, hatte viele Ideen und war ständig auf ‹Zack›. Das alles habe ich an meiner Frau sehr geschätzt.»

Wanda Wiser starb im Dezember 2020 an Magenkrebs, zwei Jahre nach ihrer Diagnose. Ein schwerer Schlag – nicht nur für ihren Mann, sondern auch ihre beiden Kinder Zoë und Jendrik, damals zwölf und zehn Jahre alt.

Ein Herzenswunsch

In den Köpfen und Herzen der Menschen, die sie liebten, in ihren Erinnerungen, auf Bildern und in alten Briefen lebt Wanda Wiser weiter. Aber auch durch ihre Stimme, denn sie hat ihrer Familie etwas ganz Besonderes hinterlassen: ein mehrstündiges Hörbuch. Aufgeteilt in einzelne Kapitel wie Kindheit, Jugend, Berufsleben oder Liebe, ist es ein Rückblick auf ihr Leben, «damit Zoë und Jendrik sich dadurch an sie erinnern können», erklärt Oliver Wiser.

«Wanda war ein sehr warmherziger und grosszügiger Mensch», sagt Oliver Wiser über seine verstorbene Frau. Bild: Verein Hörschatz

Doch die Aufnahmen enthalten auch Wünsche für die Kinder sowie Ratschläge für Situationen, die sie irgendwann einmal erleben werden, wie die erste Liebe oder die Entscheidung für einen Beruf. Ferner ermutigt Wanda Wiser sie, den Kopf nicht in den Sand zu stecken, sondern vorwärts zu schauen. «Ein solches Hörvermächtnis war ihr Herzenswunsch. Aus dem Bedürfnis heraus, weil Wanda ihren eigenen Vater ebenfalls früh verlor und immer sagte, dass man die Stimme eines Menschen am schnellsten vergisst», sagt Oliver Wiser.

Aufnahmen zuhause möglich

Diesen Wunsch konnte ihr der Verein Hörschatz (siehe Kasten) erfüllen. Er wurde 2020 von Gabriela Meissner vom Palliative-Care-Verband Zürich und Schaffhausen sowie Franziska von Grünigen, Radiomoderatorin, gegründet. Vorbild war das deutsche Projekt «Familienhörbuch».

«Wir führen im Vorfeld viele Gespräche, um zu erfahren, was und wie viel die Eltern überhaupt erzählen möchten und um sie über den genauen Ablauf und die Vorbereitung zu informieren», erklärt Meissner. Die individuelle Gestaltung der persönlichen Nachricht hänge dabei auch immer vom jeweiligen Gesundheitszustand des Elternteils ab. Weil einige Patient*innen schon zu schwach für lange Aufnahmen seien, müsse hier manchmal eine kurze Ansprache und ein Gutenachtlied genügen. Selbst der Ort, wo die Gedanken aufs Band gesprochen würden, sei unterschiedlich. Das könne bei den Betroffenen zu Hause sein, auf einer Palliative-Abteilung oder über ein Online-Programm mittels zugesendetem Mikrofon.

Gabriela Meissner, Präsidentin des Vereins Hörschatz, hilft, den Wunsch nach einem hörbaren Nachlass zu verwirklichen.  Bild: Verein Hörschatz

Nach dem Abschluss der Aufnahmen beginne die eigentliche Arbeit, der Schnitt und die Postproduktion. Zum Schluss werde den Betroffenen der von der geschützten Werkstätte altra Schaffhausen hergestellte Hörschatz-Stick als Herzform zugeschickt, in einer Schatztruhe und mit einem Inhaltsverzeichnis.

Keine Rückfragen möglich

Bei allen positiven Aspekten gibt es jedoch auch ein paar kritische, mit denen sich die Eltern auseinandersetzen müssen. «Alles, was auf dem Hörschatz ist, ist nicht mehr verhandelbar. Kinder können im Nachhinein ihren verstorbenen Elternteil nicht mehr fragen, wie etwas gemeint war. Aufträge an sie, die mit «du musst» beginnen, sollten deshalb vermieden werden. Diese können für die Kinder später zur Belastung werden, denn schliesslich müssen sie ihren ureigenen Weg finden», erklärt Gabriela Meissner.

«Alles, was auf dem Hörschatz ist, ist nicht mehr verhandelbar.»
Gabriela Meissner

Natürlich sollte auch die Trauer der Betroffenen Platz haben während der Aufnahmesituation. So komme es vor, dass jemand einfach minutenlang nur weine, aus Verzweiflung darüber, ein sterbender junger Mensch zu sein. Diese Emotionen würden aber nicht in den Hörschatz einfliessen. Trotzdem mache die Krankheit ein Kapitel aus, weil auch sie ein Teil des Lebens der Mutter oder des Vaters sei.

Abschliessen können

«Für Wanda war es wie eine Therapie», erzählt Oliver Wiser. «Die Auseinandersetzung mit sich selbst hat dazu geführt, dass sie abschliessen konnte. Sie spürte, dass sie ein tolles Leben hatte, auch wenn es viel zu schnell endete. Das ist sicher nicht einfach und zerrt an den Kräften, aber es hilft, um dem Tod gelassener entgegenzutreten», sagt der Familienvater. Vermutlich hätte ihr das auch die nötige Kraft gegeben, noch ein bisschen länger zu leben, als die Ärzte prognostiziert hatten. «Die Aufnahmen waren Ende April und schon damals dachten wir, dass Wanda nur noch einige Wochen übersteht. Sie lebte aber weiter bis im Dezember», sagt Oliver Wiser.

Zuversicht und Hoffnung

Auf die Frage, wie es gewesen sei, das erste Mal die Nachrichten zusammen mit den Kindern anzuhören, erwidert er: «Schmerzvoll, weil wir wussten, dass sie nicht mehr da ist.» Danach hörte er fast alles selbst einmal an, auch, um seine Kinder auf bestimmte Kapitel aufmerksam zu machen, wenn sie Rat suchten. Bis jetzt sei das noch nicht so häufig vorgekommen, im Moment liessen sie den Hörschatz wieder ruhen. «Ich hoffe, dass sich das mit den Jahren ändert, wenn sie vielleicht einen anderen Bezug dazu haben», sagt Oliver Wiser.

«Ich versuche, mit den Kindern jeden neuen Tag zu geniessen.»
Oliver Wiser

Er selbst lauscht ab und zu, wenn seine Frau ihm besonders fehlt, den Worten, die speziell an ihn gerichtet sind. «Das nimmt mich immer wieder emotional mit, weil es mich retraumatisiert. Wenn ich ihr Bild dazu anschaue und ihre Stimme höre, ist es fast so, als wäre sie neben mir. Diese Momente geben mir aber auch Zuversicht und Hoffnung».

Für den Familienvater, der in seinem Glauben Halt findet, ist der Hörschatz ein wichtiger Teil der Trauerbewältigung, eine Reflexion mit dem Leben, aber auch ein Motivator, weiter zu machen. «Was gestern passiert ist, kann ich nicht mehr beeinflussen und was morgen ist, sollte mich jetzt nicht sorgen. Ich versuche, mit den Kindern jeden neuen Tag zu geniessen».

Erstpublikation in «Forum Kirche», Pfarreiblatt Thurgau/Schaffhausen

Hörschätze für die Kinder

Den eigenen Kindern eine persönliche Biografie als Tondokument zu  hinterlassen, das macht der Verein Hörschatz möglich. Er vermittelt unheilbar kranken Eltern Audiobiografien und organisiert die Finanzierung durch Spendengelder und Fundraising. Gegründet wurde er 2020 von der  Gabriela Meissner, Journalistin und Kommunikationsfachfrau beim Palliative-Care-VerbandZürich und Schaffhausen, und der Radiomoderatorin Franziska von Grünigen.   Vorbild war das deutsche Projekt «Familienhörbuch».  Zum Verein gehört ein Support-Team mit Kompetenzen aus verschiedensten Bereichen. Inzwischen wurden neun «Hörschätze»  realisiert.

hoerschatz.ch