Darüber reden, damit es aufhört

Der Herbert-Haag-Preis ging dieses Jahr an acht Betroffene von sexu­ellem Missbrauch. An der Preisverleihung in der Lukaskirche Luzern wurde deutlich, wie wichtig es ist, ihre Stimmen zu hören. 

Von Sylvia Stam |  14.04.2022

Acht Betroffene von sexuellem Missbrauch im kirchlichen Umfeld erhielten dieses Jahr den Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche. Vera Rüttimann

«Ohne dass die Opfer sprechen, passiert nichts», sagt Matthias Katsch auf dem Podium Mitte März in der Lukaskirche Luzern. Er ist einer von acht Missbrauchsbetroffenen, die dieses Jahr den Herbert-Haag-Preis erhalten haben. Katsch ist Mitbegründer der deutschen Initiative «Eckiger Tisch», der die Interessen von Überlebenden von Missbrauch im kirchlichen Umfeld vertritt. «Wir wollen dazu beitragen, dass das Kindern und Jugendlichen heute nicht mehr geschieht.»

Welch langen Leidensweg Betroffene oft gehen müssen, veranschaulicht die Geschichte von Jacques Nuoffer (78), Initiant der Westschweizer Opfervereinigung «Sapec». Erst nach Monaten habe er davon gesprochen, zuerst nur in der Beichte, wie ein Priester, der ein Freund der Familie war, ihn seit seinem 14. Lebensjahr missbraucht habe. Zehn Jahre später, anlässlich der Geburt seiner Tochter, «ist das Trauma wieder hochgekommen und hat mein Leben total durcheinandergebracht». Seine Ehe sei an der Aufarbeitung zerbrochen, um seine Tochter habe er sich zu wenig gekümmert. 

Persönlich in Frage gestellt

40 Jahre nachdem er den Täter angezeigt hatte, wurde er darauf aufmerksam gemacht, dass der Fall nicht korrekt angegangen worden war: «Es hatte keine Anzeige bei der Polizei gegeben, aber ich wurde persönlich in Frage gestellt.» Als er sich daraufhin nochmals mit dem Thema befasste, fühlte er sich erneut missbraucht, «als der damalige Bischof sich weigerte, meine Fragen zu beantworten». Nuoffer erwähnt aber auch die Unter­stützung, die er durch den aktuellen Bischof Charles Morerod und den damaligen Abt von Einsiedeln, Martin Werlen, erfahren habe. 

Reden als Selbstermächtigung

Aus den Gesprächen wird deutlich, wie wichtig es für Betroffene – auf dem Podium fällt der Ausdruck «Über­lebende» – ist, zu reden und gehört zu werden. «Wenn man darüber spricht, stösst das bei anderen Menschen und anderen Betroffenen auf Resonanz», sagt Johanna Beck, Sprecherin des Betroffenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz. Das vermittle das Gefühl, nicht alleine zu sein, so Beck. «Missbrauch ist im Kern Selbstverlust und Ohnmacht. Darüber zu sprechen, hat etwas Selbstermächtigendes.» 

Die Preisträgerinnen und Preisträger haben wenig Hoffnung, dass innerhalb der hier­archischen Kirche Verbesserungen möglich sind. Ein erster Schritt wäre laut der deutschen Theologin Doris Reisinger, «anzuerkennen, was ist». Das aber würde bedeuten, «dass die Kirche ihre Deutungshoheit aufgibt». «Das Weizenkorn muss sterben, damit etwas Neues entsteht», sagt Matthias Katsch. «Diese Kirche muss sterben. Wir werden sehen, was daraus entsteht.»

Systemische Änderungen

Annegreth Bienz-Geisseler, Synodalratspräsidentin der katholischen Landeskirche Luzern, ist «erschüttert» von den Aussagen der Betroffenen. «Man hat durch alle Statements immer wieder gehört, dass die Über­lebenden beweisen müssen, dass es wirklich so war, statt umgekehrt. Das finde ich verheerend!»

Brigitte Glur-Schüpfer, Regionalverantwortliche der Bistumsregion St. Viktor, macht das Gehörte traurig. «Es ist so wichtig, dass diese mutigen Menschen hinstehen und Zeugnis geben.» Auch sie stellt sich die Frage, die auf dem Podium zu hören war: «Ist Verbesserung möglich, wenn wir nicht systemische Änderungen vornehmen?»
Landeskirche und Bistum hätten ein Präventionskonzept, entgegnet Bienz auf die Frage nach der Prävention. Dieses sehe etwa vor, dass jede*r Mitarbeiter*in einen Strafregisterauszug vorlegen muss. «In Bewerbungsgesprächen wird das Thema Missbrauch angesprochen und bei den Referenzen dazu nachgefragt.» Die Landeskirche biete mit dem Bistum ausserdem Weiterbildungen zum Thema «Nähe und Distanz» für Kirchgemeinden an. «Wir empfehlen, dass Kirchgemeinden eine verantwortliche Person bestimmen, an die sich Menschen, die grenzverletzende Erfahrungen machen, wenden können.» 

Brigitte Glur spricht in Mitarbeiter­gesprächen jede Leitungsperson auf die Missbrauchsthematik an: Was un-
ternimmt er/sie im Team bei diesem Thema? Im Zusammenhang mit Teamentwicklung sei es wichtig, Vertrauen zu schaffen, «damit man Grenzverletzungen auch ansprechen kann».

Sexueller Übergriff - Was tun? Dokumente und Informationen der Katholischen Kirche im Kanton Luzern und des Bistums Basel zum Umgang mit sexuellem Missbrauch

Missbrauch im Fokus

Den Herbert-Haag-Preis für Freiheit in der Kirche erhielten 2022: Jacques Nuoffer, Initiant der Westschweizer Opfervereinigung «Sapec»; Albin Reichmuth, Initiant der Deutschschweizer Interessengemeinschaft für Missbrauchsbe­troffene im kirchlichen Umfeld; Matthias Katsch, Begründer der deutschen Initiative «Eckiger Tisch»; Johanna Beck, Kai Christian Moritz und Johannes Norpoth, Sprecherin und Sprecher des Betrof­fenenbeirats der Deutschen Bischofskonferenz; die deutsche Theologin und Philosophin Doris Reisinger und der Wiener Theo­logieprofessor Wolfgang Treitler.

herberthaag-stiftung.ch