Das Ende gestalten, nicht abwarten

Planen heisst Aufbauen. Meint Wachsen. Bei vielen Ordensgemeinschaften verhält es sich umgekehrt, weil sie überaltert sind. Ein Gespräch mit Klosterverantwortlichen über Zukunft, Vertrauen und Werte.

Von Dominik Thali |  27.06.2022

«Wir werden weniger, das ist einfach eine Realität»: Sr. Antoinette Hauser, Provinzoberin der Menzinger Schwestern (links) und ihre Kollegin Sr. Tobia Rüttimann vom Kloster Ingenbohl. Bild: Thomas Müller

Nehmen Sie noch Novizinnen auf?
Sr. Tobia Rüttimann:
Eigentlich schon, es meldet sich einfach kaum noch jemand, und wenn eine interessierte Frau zum Gespräch kommt, dann bleibt es oft bei diesem einen Gespräch. Käme es zu einer konkreten Anfrage, würde unsere interprovinzielle Ordensausbildung zum Tragen kommen. Wir arbeiten mit unseren beiden deutschsprachigen Nachbarprovinzen zusammen.
Sr. Antoinette Hauser: Unsere letzte Profess liegt über 15 Jahre zurück. Diese Schwester machte das Noviziat ebenfalls in Deutschland. Wir haben nie offiziell erklärt, dass wir niemanden mehr nähmen. In meinen acht Jahren als Provinzoberin hat sich aber auch keine Frau gemeldet, die in Frage käme. Eine Novizin käme ohnehin in eine überalterte Gemeinschaft, das wäre problematisch.

Ich will nicht berechnen, bis wann es keine Ingenbohler Schwestern mehr gibt.Sr. Tobia Rüttimann

Es ist also absehbar, wann es in Menzingen und Ingenbohl keine Schwestern mehr geben wird.
Sr. Antoinette:
In unserer Gemeinschaft mit einem Altersdurchschnitt von mittlerweile 84 machen wir uns dazu schon seit Jahren Gedanken. Wir werden weniger, das ist einfach eine Realität. Das war schon so, als ich 1966 Ins Kloster eintrat. Gleichwohl: Die Veränderung war damals noch weit weg. 
Sr. Tobia: Ich will nicht berechnen, bis wann es keine Ingenbohler Schwestern mehr gibt. Mit 53 bin ich die drittjüngste unserer Provinz. Einerseits ist bei uns wirklich vieles eine Frage des Alters. Andererseits haben wir alle keine Ahnung, was der Herrgott mit uns in den nächsten 30 Jahren vorhat. Diese Zeit liegt noch vor mir, wenn ich von unserem Durchschnittsalter ausgehe.

Gab es einen Zeitpunkt, zu dem Sie sich sagten: Jetzt müssen wir handeln?
Sr. Antoinette:
Endgültig, als wir feststellten, dass nicht mehr viele Schwestern eine Leitung übernehmen können. Vor etwa 15 Jahren stellten wir erstmals Personen von aussen als Bereichsleitende an. Vor zehn Jahren bildeten wir ein Strategiegremium. Vor drei Jahren machten wir den kaufmännischen Leiter zum Geschäftsleiter. Schliesslich gründeten wir vor einem Jahr den Verein «Institut Menzingen», der seit Beginn dieses Jahres Rechtsträger für den Betrieb und die weltlichen Güter ist. Der Verein stellt sicher, dass auch in Zukunft für die Schwestern der Provinz Schweiz gesorgt wird und ihre Werte weitergetragen werden.

Wie wahren die Schwestern darin ihren Einfluss?
Sr. Antoinette:
Im Vorstand sitzen neben drei externen Fachpersonen die vier Schwestern der Provinzleitung. So hoffen wir, über die Runde zu kommen und gleichzeitig den Verein so zu beeinflussen, dass der Betrieb in unserem Sinn weitergeführt wird.

Menzingen hat mit dem neuen Verein einen grossen Schritt gemacht. Wen mussten Sie überzeugen?
Sr. Antoinette:
Zuerst die eigene Gemeinschaft. Dann das Generalat, also unsere weltweite Gemeinschaft. Und am Ende in kirchenrechtlicher Hinsicht auch Rom. Dass der Vatikan für römische Verhältnisse kurze drei Monate für seine Zustimmung brauchte, zeigt, dass wir gut vorbereitet waren. Klar war, dass wir ein kirchlicher Verein bleiben müssen. Aber wir sind jetzt der Bischofskonferenz unterstellt, nicht mehr dem Generalat.
Thomas Odermatt: Die Übergabe der weltlichen Güter an den neuen Verein war ein Meilenstein. Wir sind damit vom Planen ins Reale gekommen.

Kann Ingenbohl von Menzingen lernen?
Sr. Tobia:
Die künftige Leitungsform ist bei uns noch offen. Die Zahl der Schwestern sinkt ja schon seit der Nachkriegszeit. Wir sind aber immer noch eine grosse Zahl Schwestern mit einigen jüngeren darunter. Vor etwa 15 Jahren beriefen wir die ersten externen Personen in die operative Führung. 
Thomas Thali: Der Prozess dauert also schon lange. Im technischen Dienst hatte das Kloster schon immer externe Mitarbeiter. Nach und nach wurde dann in allen Bereichen, etwa der Hauswirtschaft oder Pflege, Schwesternarbeit ersetzt. In Ingenbohl ist aber, anders als in Menzingen, die strategische Leitung noch ganz in der Hand der Schwestern.
Sr. Tobia: Seit zwei Jahren sind die Bereichsleitenden nicht mehr der Provinzleitung direkt unterstellt, sondern dem neuen Geschäftsführer Thomas Thali. Gleichzeitig haben wir eine Immobilien- und eine Finanzkommission als Beratungsgremien eingerichtet. Aktuell sind wir an einer Strategieplanung. Wir beschäftigen uns darin vor allem damit, wie wir die Zukunft unseren Niederlassungen planen. 


Auf der Kuppel des Klosters Menzingen reicht der Blick weit (von links): Thomas Odermatt und Sr. Antoinette Hauser (Kloster Menzingen), Sr. Tobia Rüttimann und Thomas Thali (Kloster Ingenbohl). | Bild: Thomas Müller

Also mit dem Vermögen des Klosters.
Sr. Tobia:
Ja. Denn wir leben vom Geld, das die Schwestern früher erarbeitet haben. Damit wird der Lebensabend der Schwestern bestritten. Dieses Geld steckt in den Immobilien und in Finanzanlagen. Deshalb müssen wir gut haushalten, damit wir die jährlichen Defizite finanzieren können.

Haben die Klöster noch regelmässige Einnahmen?
Sr. Tobia:
Die wichtigsten sind die AHV-Renten und die Pensionskassen von Schwestern, wobei nur der kleinere Teil der Schwestern Pensionskassengelder bezieht.
Thali: Beide Gemeinschaften hatten früher viele Werke. Sie betrieben Schulen, Spitäler oder Heime und Schwestern arbeiteten als Angestellte. Die Klöster müssen schon lange immer wieder entscheiden, was sie noch tragen können und was nicht mehr. Die Betriebe des Klosters Ingenbohl, die ich führe, müssen ebenfalls laufend überprüft werden, wenn die Anzahl Schwestern sinkt.

Man sagt ja leicht: Die Klöster sind reich, haben viel Land, Liegenschaften, Wald usw.
Sr. Tobia:
Zum Glück haben unsere Vorgängerinnen so viel aufgebaut, sonst könnten wir nicht existieren. Zum Beispiel haben wir vergangenes Jahr das Berner Alterszentrum Viktoria verkauft. Bildlich gesprochen: Wir müssen immer mal wieder eine Immobilie veräussern, um Brot kaufen zu können.

Verantwortung abgeben zu müssen ist eine Realität. Das kommt in jeder Familie und in Unternehmen auch vor.Sr. Antoinette Hauser

Das Vermögen schrumpft also laufend. Macht Ihnen das Sorgen?
Sr. Tobia:
Nein. Wenn ich dann mal 80 bin… schauen wir, wie viel Geld wir dann noch haben. Spass beiseite: Ich lebe aus einem grossen Gottvertrauen, das mich aber auch fordert. Denn da sorgt nicht irgendein Gott am Ende schon, sondern er tut das durch uns im Heute. Wir werden aber gut geführt, und es wird weitergehen.

Ihre Klöster können nicht mehr aufbauend planen, sondern müssen das Ab- und Aufgeben verwalten. Wie geht es Ihnen damit?
Sr. Antoinette:
Verantwortung abgeben zu müssen ist eine Realität. Das kommt in jeder Familie und in Unternehmen auch vor.
Sr. Tobia: Klar, unsere Vorgängerinnen konnten entwickeln. Jetzt geht es in die andere Richtung. Aufgeben oder nicht – das ist ständig ein Thema. Das Kleinerwerden gestalten. Der Spagat besteht für mich darin: Wir wollen weiterhin da sein für die Menschen in der Gesellschaft, nicht irgendwann nur noch für uns. Wir waren immer sozial tätig und engagiert. Dieses Charisma soll in einer Form weiterleben.

Obwohl sich altersbedingt vieles um die Schwestern selbst dreht.
Sr. Tobia:
Das stimmt. Und doch: Wir haben die Schwestern gefragt: Was ist euch wichtig? Was soll in zehn Jahren sein? Da kamen Antworten wie: Der Klosterhügel soll offen und lebendig sein, es soll niederschwellige Angebote geben für Menschen, die das Kloster aufsuchen, die Spiritualität weiterleben, unsere Werte an die Mitarbeitenden weitergeben.

Neben den Aufgaben, Gebäuden und Räumen.
Sr. Antoinette:
Es gibt nicht nur unsere Werke, die wir aufgeben mussten. Wirken können wir, bis wir sterben. Ein Wert bleiben für die Gesellschaft. Wie führen wir zum Beispiel unser Pflegeheim? Sind die Wohnungen, die wir in frei werdenden Räumen planen, bezahlbar? Eine Idee ist auch ein Café. Wir wünschen uns, dass die Atmosphäre einer Gemeinschaft, die versucht, aus dem Glauben heraus miteinander zu leben und für andere da zu sein, weiter spürbar ist. Wir können ja nicht eines Tages einfach sagen: Wir haben keine Schwestern mehr, jetzt ist fertig. Der neue Verein ist nun verantwortlich dafür, unsere Werte weiterzutragen.
Odermatt: Wir verhandeln derzeit auch mit einer Schule, um dieser Platz in einem unserer Häuser anbieten zu können – Bildung war für Menzingen immer wichtig. Das Pflegeheim mit seinen medizinischen Angeboten bietet ebenfalls Perspektiven. Von Bedeutung für die Gesellschaft sind die Klöster nach wie vor auch als Arbeitgeber. Das Kloster Menzingen hat schweizweit mehr als 150 Personen auf der Lohnliste. Es kann seine Werte auch als sozialer Arbeitgeber vermitteln.

Der klösterliche Geist soll weiterleben, sagen Sie. Ist dies aber nicht stark an Personen, also die Schwestern, geknüpft?
Sr. Antoinette:
Sicher werden nicht Laien das schwesterliche Gespräch übernehmen. Wir hoffen einfach, dies noch einige Jahre weiterzuführen zu können. Die Kontakte nach aussen mit Menschen, die unseren Geist spüren und weitertragen, sind für uns wichtig. Gleichwohl: Niemand lässt gerne los. Wir müssen den Schwestern einfach hie und da bewusst machen, dass dies in jeder Familie geschieht.

Sie machen einen gelassenen Eindruck.
Sr. Antoinette:
Wer als Provinzoberin gewählt wird, muss sich täglich darin üben. Letztlich geht es um Gottvertrauen, wie Sr. Tobia gesagt hat. Daran glauben, dass Gott gut ist. Auch wenn wir dies bisweilen auf eine andere Art spüren, als wir es gemeint hatten.

Sr. Tobia: Gleichwohl schmerzt das Kleinerwerden, das Loslassen. Die Schwestern gehen unterschiedlich damit um, aber gemeinsam schaffen wir es. So, wie wir schon unsere Werke nur im Miteinander aufbauen konnten. Weil Frauen zusammenstanden.

Fliessen auch mal Tränen?
Sr. Tobia:
Das kommt vor.

Die Klöster sind keine weltfremden Gemeinschaften. Die Schwestern stehen mit beiden Beinen in der Welt.Thomas Thali

Die Ordensgemeinschaften haben ihre prägende Rolle in der Gesellschaft verloren, aber weiterhin suchen noch immer viele Menschen in der Religion und Spiritualität nach Halt und Antworten. 
Sr. Antoinette:
Wir haben kaum mehr Schwestern, die auswärts tätig sind. Die meisten Kontakte nach aussen haben wir mit jenen Menschen, die uns hier in Menzingen besuchen. Dass man als Frauen zusammenleben und einen Weg aus dem Glauben heraus gehen kann, halte ich aber nach wie vor für modellhaft. Mit Benachteiligten in Kontakt kommen, Gerechtigkeit leben, sich für die Bewahrung der Schöpfung einsetzen, den Frieden kultivieren – von der Idee her haben wir schon noch einen Sinn.
Sr. Tobia: Nach Ingenbohl kommen unterschiedliche Gruppen. Auch Menschen, die mit der Kirche nichts am Hut haben oder andersgläubig sind. Wir hören etwa: Die Krypta ist ein stiller Raum, der mir einfach gut tut. Solche Orte sind zunehmend ein Bedürfnis. Wir wollten schon immer offen sein für alle Menschen, die zu uns kommen. Früher konnten wir das an vielen Orten, heute tun wir es weiterhin in Ingenbohl. In unserem Provinzleitbild heisst es: «Im Mittelpunkt unserer Sendung steht der Mensch, ohne Unterschied des Alters, der Nationalität, des Geschlechts, des Glaubensbekenntnisses, der gesellschaftlichen Stellung.»
Odermatt: Klösterliche Umgebungen mit ihrer Ruhe, die sie ausstrahlen, ziehen die Menschen an. Nach wie vor.
Thali: Der Klosterhügel von Ingenbohl hat immer noch eine grosse Strahlkraft im Talkessel von Schwyz und darüber hinaus. Die Krypta des Klosters ist ein Kraftort, der bestehen bleiben wird.

Sie haben als Geschäftsführer auch eine beratende Funktion. Müssen Sie die Schwestern mitunter auf den Boden der Wirklichkeit holen?
Thali:
Überhaupt nicht. Die Klöster sind keine weltfremden Gemeinschaften. Die Schwestern stehen mit beiden Beinen in der Welt. Sie gingen schon immer dorthin, wo es soziale Not gab, mitten ins Leben. Sie scheuten sich nie, eine Aufgabe zu übernehmen. Manchmal selbst zu ihrem Nachteil. Das ist bis heute spürbar.
Wenn man jetzt auf die Klöster zugeht und sagt, ihr habt ja Räume, könnte man nicht etwas aus diesen machen, bin ich deshalb auch skeptisch. Die Schwestern schauen seit Jahrzehnten, dass aus dem, was sie geschaffen haben, etwas Gutes wird. Sie haben Einrichtungen mit Blick auf eine gute Zukunft in neue Hände übergeben. Zum Beispiel im Kanton Basel-Land ein Haus für Frauen und Kinder in Not. 
Sr. Antoinette: Wenn wir von «Werte weiterführen» sprechen, heisst das auch: Wir verkaufen eine Immobilie oder Einrichtung nicht zum Höchstpreis, selbst wenn wir das Geld brauchen könnten, sondern überlegen uns, wie etwas sinnvoll weitergehen kann.
Odermatt: So verstehe ich auch meine Aufgabe. Es geht ums Weiterführen. Die Schwestern setzen dafür den Rahmen.

Viele Ordensgemeinschaften stehen vor den gleichen Herausforderungen wir Menzingen und Ingenbohl. Arbeiten Sie zusammen?
Sr. Antoinette:
Es gibt nur eine lockere in Form von Austausch, keine institutionalisierte. Die Gemeinschaften sind dafür zu unterschiedlich.
Thali: Bald wird es ein Treffen von Geschäftsführenden von verschiedenen Schwesterngemeinschaften geben. Neben Menzingen und Ingenbohl betrifft das Baldegg, Illanz, die St. Anna-Schwestern in Luzern.
 

Immer weniger Schwestern

Die Ingenbohler Schwestern und die Schwestern von Menzingen sind zwei der grossen Frauen-Ordensgemeinschaften in der Schweiz.

Ingenbohl zählte am 1. Januar weltweit 2750 Schwestern, davon 356 in der Schweiz, wo das Durchschnittsalter 82 Jahre beträgt. Vor fünf Jahren umfasste die Provinz Schweiz noch 482 Schwestern und vor zehn Jahren 631. Sr. Tobia Rüttimann (53) ist seit Nov. 2017 Provinzoberin, Thomas Thali (60) seit Juli 2020 Geschäftsführer der Klosterbetriebe.

Menzingen zählte am 1. Januar weltweit 1426 Schwestern, davon 188 in der Schweiz, wo das  Durchschnittsalter 84 Jahre beträgt. Vor fünf Jahren umfasste die Provinz Schweiz noch 276 Schwestern, vor zehn Jahren 369. Sr. Antoinette Hauser (77) ist seit 2014 Provinzoberin, Thomas Odermatt (52) seit 2018 kaufmännischer Leiter bzw. seit 2020 Geschäftsleiter.