«Das Leben kann sie dir nicht nehmen»
Luise B. (Name geändert) wurde Opfer von Übergriffen durch eine Ordensfrau, bei der sie in Therapie war. Erstmals erzählt sie öffentlich davon und erklärt, was sie von den kirchlichen Verantwortlichen erwartet.
«Das Leben kann sie dir nicht nehmen», sagte sich Luise B. Sie wurde Opfer von Übergriffen durch eine Ordensfrau. Bild: Michel Gilgen
Was haben Sie erlebt?
Luise B.: Meine Abhängigkeit ist ausgenützt worden. Ich hatte meiner Therapeutin meinen innersten Kern, die Seele offenbart. Sie war eine gläubige Frau, eine Nonne – das macht für mich bis heute einen Unterschied. Ich hatte den Bezug zu Gott gesucht. Ich suchte Seelsorge in meinen Problemen: dass die Seele Raum bekommt und ich mich öffnen kann. Und das habe ich zunächst auch so erlebt. «Die versteht mich!», habe ich oft empfunden. Sie hatte darin eine unglaubliche Fähigkeit. Ich habe auf diesem Hintergrund meine Abwehrmechanismen aufgegeben.
Wie wurde aus dem Gefühl, verstanden zu werden, ein Übergriff?
Sie hat begonnen, mich zu manipulieren. Hat mir nachtelefoniert, Briefe geschrieben, immer öfters, sie hat sich unentbehrlich gemacht. Als ich wegen meines Knochentumors im Spital war – man musste mir einen Finger amputieren – hat sie mich auch dort begleitet, war beim Aufwachen dabei. Auf einmal war sie omnipräsent. So wurde die Therapie immer näher, immer «verstrickter» … ich hatte auch noch nie einen Menschen erlebt, der meine Seele so erkannt hat. Ich habe mich geöffnet, bis ich völlig wehrlos war. Eines Tages schloss sie während unserer Sitzung einfach die Türe von innen ab.
Wie haben Sie darauf reagiert?
Man sagt dem «Doppeldenk»: Ich nahm wahr, dass etwas komisch ist und fragte «Warum schliesst du die Tür?» – «Ja weisst du, der Mann könnte hereinkommen, der ist nicht zurechnungsfähig.» Tatsächlich hörte ich immer wieder so ein Poltern. Oben in dem Klostergebäude lebte nämlich ein Mann, der oft unruhig war. So ergab eins das andere. Plötzlich hat sie sich neben mich gesetzt. Sie wusste, dass ich mich schon mit 17 in eine Mitschülerin verliebt hatte und dass das damals, in den 1970er-Jahren, noch ein Aussenseiterthema gewesen war.
Möchten Sie erzählen, wie es weiterging?
Ja. Wir haben dann eine private Beziehung begonnen. Sie hat das «Neudefinition» genannt. Sie hatte eine Erklärung, wie wir jetzt die Nähe ins Private hinein neu definieren sollten. Als später alles eskaliert ist, erinnere ich mich, wie sie einmal sagte: «Das ist alles so geworden, weil ich dich liebe.»
Diese Frage ist heikel, dennoch will ich sie mit aller Vorsicht stellen: Warum haben Sie das mit sich machen lassen?
Das habe ich mich auch oft gefragt, vor allem hinterher. Ich kann nur sagen: Ich konnte keinen Widerstand mehr leisten. Ich habe mich immer wieder gefragt: Weshalb? Auch als sie körperlich immer näher kam, Schritt um Schritt: Was ist das? Ich konnte es nicht benennen… und das ist ein Merkmal solcher Übergriffssituationen: Man nimmt sie als Übergriff wahr, kann sich aber nicht distanzieren und nicht wehren. Ich habe keinen «Ich-Kern» mehr gehabt, keine Grenze mehr gespürt, die Therapeutin hat mich emotional besetzt und so über mich bestimmt.
Über welchen Zeitraum waren Sie bei der Ordensfrau in der Therapie?
Über vier Jahre, zwischen 1995 und 1998. Ich habe in der Zeit über 100 Briefe von ihr bekommen, viele davon Liebesbriefe. Die habe ich dann im standesrechtlichen Verfahren gegen sie vorgelegt.
Wie ist dieses Verfahren ausgegangen?
Meine Beschwerde wurde «teilweise gutgeheissen». Das gab mir Klarheit – und die Schwester sollte sich gewissen Massnahmen unterziehen.
Es ist Ihnen gelungen, sich zu befreien. Was bedeutete das für Sie?
Die Folgen, die ich zu tragen habe, sind enorm. Mein soziales Umfeld war zerstört, weil ich sämtliche andere Kontakte nach und nach aufgegeben hatte. Dann folgte die Isolation, nach all der Beschämung und Erniedrigung. Als ich gemerkt habe, dass sie mir alles zerstört, mein gesamtes Umfeld, ist mir der Satz in den Sinn gekommen: «Das Leben kann sie dir nicht nehmen». Das hat sich bewahrheitet. Aber bis heute fällt es mir im privaten Bereich schwer, mich wirklich auf einen anderen Menschen einzulassen.
Wer oder was hat Ihnen geholfen?
Als ich immer aggressiver gegen sie wurde und mich wie eine eingesperrte Löwin gefühlt habe, erzählte ich das einem Psychiater der Beratungsstelle Castagna. Er hat sofort gesagt: «Anzeigen.» So kam es überhaupt zu diesem Verfahren. Gleichzeitig wusste ich intuitiv: Es heilt nur das, was mich verletzt hat – mir kann also nur eine Ordensfrau helfen. Verrückterweise las ich dann in der Zeitung, dass eine «Spirituelle Weggemeinschaft» gegründet worden war, die psychisch kranke Menschen aufnimmt. Schwester Andrea Bucher, die damalige Oberin, begleitete mich spirituell, menschlich und auch finanziell. In dieser Gemeinschaft habe ich dann wieder neu Geborgenheit im Glauben erfahren. Auch durch das Lesen der Bücher von Papst Benedikt erfuhr ich «Seelenheilung».
Haben Sie die Geschehnisse auch einer kirchlichen Anlaufstelle gemeldet?
Die hat es damals noch gar nicht gegeben. In dem Moment war ich allein.
Haben Sie sich an kirchliche Verantwortliche gewandt?
Mehrmals. Die damalige Oberin der Ordensgemeinschaft war eine fromme, einfache Frau, die mit der beschuldigten Schwester aber überfordert war. Bis heute habe ich keine offizielle Entschuldigung des Ordens erhalten, nicht einmal zum Gespräch durfte ich kommen. Die Oberin hat die Angelegenheit aber immerhin Martin Werlen anvertraut, der damals Abt von Einsiedeln war. Er hat versucht, zwischen der Schwester und mir zu vermitteln, was sie aber nach dem Bruch strikt abgelehnt hat. Zu meinem Glück wurde in dieser Zeit von der Bischofskonferenz das Fachgremium «Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld» gegründet. Abt Martin hat sich sehr für eine Genugtuung eingesetzt und dank der Anwälte habe ich dann 25 000 Franken erhalten. Martin Werlen war sehr, sehr engagiert. Ähnlich wie Beat Häfliger, ein Priester. Ich hatte mich bei ihm gemeldet, als er Missbrauchsbetroffene dazu aufrief. Er bot mir an, mir am Gründonnerstag die Füsse zu waschen. Das war eine starke Geste für mich – weil ich mich ja als Schandfleck fühlte.
Wie haben Sie die Reaktionen von kirchlichen Verantwortlichen insgesamt erlebt?
Sehr durchmischt. Ich bin lange Wege gegangen. Erst dachte ich, der Bischof von Basel könnte mir von seiner Autorität her helfen. Dann habe ich erfahren, dass er gar nichts machen kann. Zuvor hatte ich Kurt Koch geschrieben, weil er vor Felix Gmür Bischof in Basel war. Er antwortete, er habe viel zu tun, und hat die Angelegenheit einem Weihbischof übergeben. Ich muss sagen, das war für mich eine furchtbar schreckliche Begegnung. Dieser empfing mich mit den Worten: «Wann hören Sie denn endlich auf?». Später habe ich nochmals mit Felix Gmür Kontakt aufgenommen. Von unserem Gespräch habe ich mir gemerkt, dass er sagte, ich würde einmal «ringer» sterben als er.
Was könnte er damit gemeint haben?
Ich hatte ihm von meinem Leid erzählt, von der Not, der Isolation. Auch für mich persönlich ist das alles ja ähnlich der Erfahrung von Jesus. Ich habe das Gefühl, ich bin am Kreuz gewesen, und ich habe mich oft mit Jesus verglichen: verleumdet, angespuckt, verraten. Ich glaube, Bischof Felix meinte, wenn er Sterbende begleite, gehe es ihm ähnlich. Ich habe gemerkt, er bemüht sich, zu verstehen. Am Schluss des Gesprächs kommt noch ein Mitarbeiter des Bischofs herein und sagt: «Sieht Frau B. nicht ‹buschper› aus?» Ich war schockiert, und ich habe etwa drei Wochen gebraucht, um mich von dem Gespräch zu erholen. In Bezug auf die Situation mit der Ordensgemeinschaft und der Schwester hat es nichts gebracht. Joseph Bonnemain kennt mich auch gut. Er hat mir einmal gesagt, ich sei eines der ersten Opfer gewesen, das bei ihm vorgesprochen habe. Er ist ja ein ehrlicher Typ. Um Himmels willen, hat er gesagt, und dann noch zwei Frauen …
Wie sehen Sie die katholische Kirche heute?
Sie ist am Auseinanderfallen. Ich selbst hatte ihr gegenüber viele Projektionen, ich habe darin vieles gesehen, was es nicht gibt. Heute habe ich erkannt, dass das alles Menschen sind, die oft noch hilfloser Suchende sind, als ich selbst.
Was müsste sich strukturell verändern?
Die Liebe, das Menschsein. Bei all den Begegnungen in der Kirche habe ich kaum je menschliche Priester und Ordensleute erlebt. Ich meine, sie lassen die Liebe nicht zu, sie lieben nicht. Liebe würde bedeuten, einen Menschen in der Tiefe seiner Existenz zu «sehen» und Grenzen anzuerkennen.
Was erwarten Sie in Ihrem Fall von Vertretern und Vertreterinnen der Kirche?
Ich habe den Wunsch, dass die Oberin des Ordens mir vis-à-vis sitzt und mich als Opfer sieht. Und schliesslich möchte ich, dass sie auch wahrnimmt, wie ihre Mitschwester gelitten hat.
Wie meinen Sie das?
Aus den Gesprächen und aus den Briefen weiss ich, was für eine innere Not diese Frau in ihrem Leben gehabt hat. Eine absolute Sehnsucht nach Nähe, nach Geborgenheit. Sie suchte Liebe … war es Liebe zwischen uns? Es war Macht, weil sie mein Vertrauen missbraucht hat. Aber von dem, was ich gespürt habe, ist es die Liebe, die ihr so tief gefehlt hat. Was gefehlt hat, war im Grunde Liebe. Ich möchte, dass die Verantwortlichen wissen, was die Frau gelitten hat, und dass auch sie ein Opfer ihres Systems ist.
Was fehlt Ihnen in der Aufarbeitung von Übergriffen?
Ich vermisse vor allem das Nachfragen. Da vertraue ich meine Geschichte einem Verantwortlichen an – und dann höre ich nichts mehr. Weder interessiert sich jemand für die Spätfolgen solcher Erfahrungen, noch höre ich, welche Konsequenzen die Verantwortlichen aus dem Gehörten ziehen.
Was ging Ihnen als Erstes durch den Kopf, als Sie hörten, dass eine Vorstudie zu sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche Schweiz gemacht wird?
Natürlich dachte ich, dass das gut ist. Und dann ging mir auch durch den Kopf, was das für mich noch soll, nach alledem … und gleichzeitig wusste ich: Ich muss mich melden.
Was erwarten Sie von der Vorstudie?
In meinem Fall: Dass ich gesehen werde und als Fall anerkannt werde. Ich nehme an, die meisten Fälle geschehen zwischen einem Priester und einem Ministranten oder einem Mädchen. Mein Fall, in dem es um zwei erwachsene Frauen geht, schien mir auch selbst lange unüblich. Ich möchte, dass anerkannt wird, dass auch das eine Realität ist. Vielleicht gelingt es dank der Studie ja sogar, dass sich noch weitere Opfer melden und Mut fassen, weil sie ihre Erfahrungen nicht mehr länger verschweigen müssen.
Dies ist ein Beitrag aus der Kooperation der Arbeitsgemeinschaft der Pfarrblattredaktionen der Deutschschweiz (arpf.ch)
Gegen die Richtlinien des Berufsverbandes verstossen
Luise B. (*1953) studierte Pädagogik und Psychotherapie. Mit 42 Jahren erkrankte sie an Knochenkrebs. In dieser Zeit wandte sie sich an eine Ordensfrau, um selbst psychotherapeutisch begleitet zu werden. Von 1995 bis 1998 erlebte Luise B. Übergriffe durch diese Ordensfrau, die bei ihr auch eine Invalidität verursachten. Dank eines gelungenen Arbeitsversuchs kann sich die 70-Jährige seit einigen Jahren wieder ihren Lebensunterhalt verdienen. Sie ist heute als Psychotherapeutin in eigener Praxis und ist als schulische Heilpädagogin tätig. Im Jahr 2000 hat Luise B. ein standesrechtliches Verfahren gegen die Ordensfrau bei der Beschwerdekommission des zuständigen Verbands der Psychotherapeut:innen angestrengt. Darin wurde erkannt, dass die Ordensfrau die Standesordnung des Verbands verletzt hatte: den verantwortlichen Umgang mit psychotherapeutischen Methoden, sowie «Persönliche Verstrickung (Überengagement, Umgang mit Grenzen)», wie es im Bescheid heisst. Die Ordensfrau musste sich einer Therapie unterziehen und die Verfahrenskosten tragen. Sie ist vor kurzem verstorben.