Das Politik-Dilemma der Kirchen

Dürfen Kirchen politisieren? Nach der Abstimmung über die Konzernverantwortungsinitiative Ende November 2020 überdenken die Kirchen ihr damaliges Engagement für die Vorlage. Eindeutige Antworten gibt es jedoch nicht.

 

Von Sylvia Stam |  13.01.2022

Bischof Felix Gmür und Renata Asal-Steger, Präsidentin der Römisch-katholischen Zentralkonferenz, sind nicht für Entscheide von Pfarreien verantwortlich. Bild: Susanne Goldschmid, EKS

Mit Ja-Parolen an Kirchtürmen, einem Komitee «Kirche für Konzernverantwortung» oder Predigten, in denen sich Seelsorgende für die Vorlage aussprachen, gerieten die katholische und die reformierte Kirche im Herbst 2020 in die Kritik: Dürfen die Kirchen als öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaften sich auf diese Weise in einen Abstimmungskampf einmischen? Mit dieser Frage sehen sich die beiden grossen Landeskirchen bis heute konfrontiert.

An einem Podium Anfang Dezember in Bern, organisiert von den Kirchen selber, wurde sichtbar, dass es keine einfachen Antworten darauf gibt.

Ein Schritt zu weit

Dass Kirchen sich politisch einmischen sollen, wenn es beispielsweise um ökologische Themen oder Menschenrechte gehe, darüber waren sich Renata Asal-Steger, Präsidentin der Römisch-Katholischen Zentralkonferenz (RKZ), Felix Gmür, Präsident der Schweizer Bischofskonferenz (SBK), und Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS), einig. Diskutiert werden müsse aber die Art und Weise.

«Fragen Sie Ihre Kirchgemeinde und protestieren Sie dort.»
Bischof Felix Gmür

Mit den Fahnen an den Kirchtürmen seien die Kirchen wohl tatsächlich «einen Schritt zu weit» gegangen, sagte Famos selbstkritisch. Auch Bischof Felix Gmür liess erkennen, dass er als Pfarrer kein Plakat mit Ja-Parole aufgehängt hätte. Die Spitzen nationaler Gremien machten aber auch deutlich, dass solche Entscheide basisdemokratisch vor Ort gefällt würden: In den Pfarreien und Kirchgemeinden.

«Fragen Sie Ihre Kirchgemeinde und protestieren Sie dort. Ich habe darauf keinen Einfluss», schrieb der Basler Bischof Felix Gmür denn auch den erbosten Gläubigen seines Bistums zurück, wenn sie sich bei ihm über die Kampagne beschwerten, sagte Gmür auf dem Podium.

Wer ist «die Kirche»?

Die Briefe von Gläubigen an Bischof Gmür ebenso wie Reaktionen von Politiker*innen auf die Kampagne zeigen, dass sowohl Kirchenmitglieder wie Aussenstehende nicht zwischen den verschiedenen Ebenen der kirchlichen Struktur unterscheiden: Wenn am Kirchturm eine Ja-Parole hängt, dann ist es «die Kirche», die hier Stellung bezieht.

«Ich lasse meinen Verstand doch nicht vor der Kirchentür zurück!»
Eine Frau aus dem Publikum

Die Kirchen befinden sich hier in einem Dilemma: Die demokratischen Strukturen der Landeskirchen ermöglichen Entscheidungen vor Ort. Für diese sind weder der Bischof noch die Präsidentinnen von RKZ oder EKS verantwortlich. Dennoch werden sie als höchste Vertreter*innen ihrer jeweiligen Kirche von Kritiker*innen in die Verantwortung gezogen.

Diskussionsräume schaffen

Um dieses Dilemma zu umgehen, gäbe es andere Möglichkeiten, wie die Kirchen sich in politische Debatten einbringen können: Auf dem Podium wurde angeregt, dass Kirchen Räume für Diskussionen schaffen, in denen verschiedene christlich begründete Sichtweisen auf dieselbe Thematik Platz haben.

Zu guter letzt erinnerte eine Frau aus dem Publikum daran, dass Gläubige sich durchaus selber eine Meinung bilden können, selbst wenn eine Parole am Kirchturm hängt: «Ich lasse meinen Verstand doch nicht vor der Kirchentür zurück!»