Das Versprechen der fünf Kardinäle
Archive sind die Gedächtnisse der Pfarreien und Kirchgemeinden. Aber auch Schatzkammern. Zufall und Neugier holen mitunter Wundersames daraus in die Gegenwart zurück. Ein Beispiel aus Inwil.
Pfarreiarchivar Stephan Gyr (rechts) und Autor Heiri Hüsler im Pfarreiarchiv Inwil. Es wurde vergangenes Jahr ins neue Pfarreizentrum Candidus verlegt. Bild: Dominik Thali
Am Anfang war da diese unscheinbare Holzkiste; zwischen alten Statuen, Kreuzen und dergleichen, im Gschtelasch des alten Pfarreiarchivs, sagt Stephan Gyr. Generationen hatten sie nicht beachtet. Am Ende steht das fast dreihundertseitige Buch mit dem Titel «Schätze aus dem Inwiler Pfarreiarchiv», zusammengetragen und verschriftlicht von Heiri Hüsler. Es erschien im vergangenen Frühjahr und ist eine wie vielfältige Pfarrei- und Dorfgeschichte von Inwil.
Erzählen schafft Verstehen
Gyr und Hüsler sind beide in den Siebzigern. Ersterer, gewesener Sekundarlehrer, pflegt das Eibeler Pfarreiarchiv seit 2007, der zweite wuchs in der Dorfbäckerei auf, lebt schon lange in Luzern und versteht es, das Früher nicht verschachtelt zu erklären, sondern so davon zu erzählen, dass männiglich rundum die Ohren spitzt. Seine Wissbegier erklärt sich Hüsler mit seinem früheren Polizeiberuf: «Wie etwas kam und warum etwas so ist, das interessiert mich einfach.» Für ihn ist aber auch klar: «Wenn man will, dass die Leute etwas begreifen, muss man es ihnen erzählen und Bilder zeigen.»
«Wenn man will, dass die Leute etwas begreifen, muss man es ihnen erzählen.»
Heiri Hüsler
Stephan Gyr und Heiri Hüsler ergänzen sich also vortrefflich. Das Archivieren ist für beide nicht nur gesetzliche Pflicht, Pfarreiarchive sind für sie auch Fenster in die Vergangenheit, die es immer mal wieder zu öffnen gelte. Als Gyr berichtet, wie er vor gut drei Jahren beim Kramen auf jene hölzerne Kiste stiess – «reiner Zufall» –, selbige öffnete und glänzende Augen bekommen habe, nickt Hüsler. «Da schlug ihm sein Herz bis zum Hals vor Aufregung», beschreibt er die Szene in seinem Buch, «denn in der Kiste lagen durcheinander über 20 Urkunden aus Pergament und mit grossen Siegeln.»
Blättern in alten Urkunden: Heiri Hüsler (links) und Stephan Gyr. Bild: Dominik Thali
Woher stammt die Kiste?
Bevor man die Urkunden untersuchen und übersetzen konnte, mussten sie im Staatsarchiv entfaltet und geglättet werden. Der Kirchenrat sprach das Geld dafür. Über die Jahrhunderte hatten sich die Pergament-Häute verhärtet. Sie wären beim sorglosen Umgang damit gebrochen. Die Holzkiste selbst entpuppte sich als ungefähr 200 Jahre altes Behältnis unbekannter Herkunft. Fest steht, dass sie mehrmals vom Postamt in Solothurn versiegelt wurde. Hüsler nimmt an, dass die Kiste vom Sitz des Bischofs in Solothurn mehrmals per Post verschickt wurde.
Einblick ins Mittelalter
Der nächste glückliche Umstand war, dass sich mit dem pensionierten Historiker und Staatsarchiv-Mitarbeiter Konrad Wanner ein Experte fand, der die alte Schrift lesen, die lateinischen Texte übersetzen und in eine heute verständliche Sprache übertragen konnte. Dieser Prozess sei aufwändiger gewesen als gedacht, sagt Hüsler. «Aber das vorliegende Buch wird künftigen Generationen Einblick in die mittelalterliche Zeit geben.»
Blättern in der Vergangenheit: Stephan Gyr und Heiri Hüsler im Pfarreiarchiv Inwil. Bild: Dominik Thali
«Nach aufrechter Busse»
Darin aufgenommen wurden schliesslich nicht nur die Urkunden aus der Holzkiste, sondern noch weitere aus dem Inwiler Pfarreiarchiv. Die alten Schriftstücke betreffen einerseits Rechts- und Finanzgeschäfte wie Pfründen oder Zehnten, anderseits Religiöses wie Jahrzeiten, Bruderschaften oder Ablässe. Die älteste Urkunde geht auf das Jahr 1339 zurück, die jüngste auf 1691.
«... den Besuchern der Pfarrkirche Inwil einen Ablass von 100 Tagen unter gewissen Bedingungen»
Aus der Urkunde von 1339
Die schönste, weil mit gleich fünf Siegeln versehen, ist ein Pergament aus dem Jahr 1470: Damit gewähren fünf Kardinäle «den Besuchern der Pfarrkirche Inwil einen Ablass von 100 Tagen unter gewissen Bedingungen». Den Kardinälen war es ein Anliegen, «dass die Pfarrkirche der heiligen Apostel Peter und Paul in Inwil [...] in noch grösserem Masse verehrt [...] und von den Christgläubigen besucht werde», was «jährlich nach aufrichtiger Busse und Beichte» an den Festtagen der beiden Heiligen, am Maria Himmelfahrt, an den Feiertagen der Heiligen Fabian und Sebastian sowie am Karfreitag und am Tag der Kirchweih zu geschehen habe. Amen. Heiri Hüsler schmunzelt. «Wir verstehen heute gut, dass die Leute damals um ihr Seelenheil bangten und glaubten, sich mit Ablässen vor dem Fegefeuer bewahren zu können», meint er. «Wenn auch der Glaube daran verschwunden ist, so gehörte die Religion lange einfach zum Alltag.»
Rechtzeitig Antworten finden
Die Urkunde von 1470 und 36 weitere sind im ersten Teil von Heiri Hüslers Buch dokumentiert. Im zweiten Teil berichtet er von weiteren Schätzen aus dem Pfarreiarchiv, fasst das Pfrundwesen zusammen, erläutert die Friedhofsgeschichte und aktualisiert die Chronik der Pfarrei und Kirchgemeinde – bis zum Bezug des neuen Pfarreizentrums im März 2021.
Stephan Gyr und Heiri Hüsler blättern gern in der Vergangenheit. Dafür ist ihnen das Pfarreiarchiv eine unerschöpfliche Quelle. Sie verklären nicht, was war, sondern wollen erklären, weil sie sich «der nächsten Generation verpflichtet sehen», wie Hüsler sagt. Selbst habe er sich ja lange nicht für Geschichtliches interessiert, räumt er ein. «Wenn man jung ist, hat man noch kaum Fragen. Doch wenn man einmal Fragen hat, ist oft niemand mehr da, der sie beantworten kann.»
Gesetzlicher Auftrag
Das römische Kirchenrecht verpflichtet die Pfarreien und das landeskirchliche Recht die Kirchgemeinden, Archive zu führen. «Archive sind Gedächtnisse, sie stellen sicher, dass aufgrund von Originaldokumenten Rechts- und Besitzansprüche jederzeit geltend gemacht werden können und historische Forschung betrieben werden kann», heisst es dazu in einer Wegleitung des Luzerner Staatsarchivs. Dort betreut die Historikerin Eva Bachmann im Auftrag der Landeskirche das kirchliche Archivgut und berät Kirchgemeinden und Pfarreien. Es gibt zum Beispiel eine Anleitung für Ordnungssysteme und eine Vorlage für einen Archiv- und Registraturplan. do
Heiri Hüsler: «Schätze aus dem Inwiler Pfarreiarchiv» | Herausgeberin: Kirchgemeinde Inwil | ISBN 978-3-033-08286-1, Preis: Fr. 35.– + Porto; Bezug: Kirchgemeinde Inwil, Pfarrhof 2, 6034 Inwil, pfarrei-inwil@pr-oberseetal.ch