Den Tag nehmen, wie er kommt
Seit Oktober 2020 leitet Sr. Maria Raphael Märtens (36) die Gemeinschaft der Kapuzinerinnen im Kloster St. Anna Gerlisberg in Luzern. Die junge Frau Mutter blickt der offenen Zukunft des Klosters gelassen entgegen.
Sr. Maria Raphael (36) ist evangelisch aufgewachsen. Dennoch spürte sie schon als Kind die Sehnsucht, ins Kloster zu gehen. Bild: Martin Dominik Zemp
«Ich weiss, was ich will», sagt Sr. M. Raphael und lacht. Die neue Frau Mutter der zehnköpfigen Schwesterngemeinschaft sitzt im Garten des Klosters Gerlisberg, hoch über dem Vierwaldstättersee. Sie erzählt von der Reaktion ihrer evangelischen Familie, als sie zum katholischen Glauben konvertierte. Sr. M. Raphael wurde 1985 in Magdeburg, damals noch DDR, geboren; ihr Grossvater und zwei Onkel waren evangelische Pfarrer. Von «Hochverrat» war da die Rede, der tolerantere Teil habe es gelassen genommen, wieder andere seien schlicht «traurig» gewesen, dass sie nun weit weg sei - nicht nur in der Schweiz, sondern darüber hinaus in einem geschlossenen, kontemplativen Kloster.
Nach Hause kommen
«Ich hatte als kleines Kind schon die Sehnsucht, ins Kloster zu gehen», sagt die Ordensfrau mit einem Blick, als wäre dies das Selbstverständlichste auf der Welt. Eines Tages wusste die gelernte Sozialbetreuerin, dass es nun Zeit für diesen Schritt sei. Sie besuchte verschiedene Klöster in Deutschland und in der Schweiz. «Als ich an die Pforte von Gerlisberg kam, war es, als käme ich von einer langen Reise nach Hause.»
«Ich habe mir mit gekämpft.»
Sr. M. Raphael
Das war 2004, als noch 16 Schwestern im Kloster lebten. «Wir haben mit offenen Karten gespielt», sagt sie mit Bezug auf den schon damals hohen Altersdurchschnitt der Schweizer Schwestern. Heute steht sie einer zehnköpfigen Gemeinschaft vor, wovon die Hälfte aus Maua in Tansania kommt (siehe Kasten rechts). Obschon die ehemalige Missionsstation inzwischen eine eigenständige Gemeinschaft ist, bleibt Gerlisberg sozusagen das Mutterkloster.
Bereichernd und fordernd
«Für die Maua-Schwestern ist es selbstverständlich, dass sie zu ihrer Mutter schauen, wenn diese betagt ist. Die ausgewählten Schwestern empfinden es als grosse Ehre, hierher zu kommen.» Sr. M. Raphael liebt offensichtlich die Rhythmusinstrumente, mit denen die afrikanischen Mitschwestern an Hochfesten Gottesdienste und Chorgebete bereichern. Auch lachten sie viel zusammen, etwa über sprachliche Versprecher der Tansanianierinnen. Dennoch verhehlt sie nicht, dass das Zusammenleben auch herausfordernd sein kann. «Sie sind sehr spontan, wir eher strukturiert. Manchmal muss man sie richtig ausbremsen.»
«Akzeptieren die Schwestern mich als Oberin?», fragte sich Sr. M. Raphael zu Beginn. | Bild: Martin Dominik Zemp
Zu Dorothea gebetet
Die Zusage, die Leitung der Gemeinschaft zu übernehmen, sei ihr nicht leichtgefallen, gesteht sie. «Ich habe mit mir gekämpft und Dorothea, die Frau von Bruder Klaus, um Unterstützung gebeten.» Zukunftsängste hätten sie gequält: «Wie kriege ich diese Verantwortung hin? Akzeptieren die Schwestern mich als Oberin?» Heute ist beides kein Thema mehr.
Die Gemeinschaft hat allerdings zusammen mit dem Stiftungsrat die Aufgaben neu strukturiert. «Die Aufgaben, die meine Vorgängerin Sr. M. Nicola innehatte, sind nun auf acht Köpfe verteilt», sagt Sr. M. Raphael. «Dadurch habe ich sehr viel Zeit.» Etwa für den Kräutergarten des Klosters, der auf ihre Initiative zurückgeht und in dem Kräuter für Tee, Sirup, Salz oder Kräuterschnaps wachsen. Bis auf den Schnaps sind die Produkte im Klosterladen erhältlich. Auch hier hilft die Oberin aus, ebenso beim Versand der Hostien aus der klostereigenen Hostienbäckerei.
«Ich liebe die Liturgie. Wir haben hier so viele Freiräume.»
Sr. M. Raphael
Nachdem das Kloster im Frühling des vergangenen Jahres infolge des Lockdowns Kurzarbeit anmelden musste, zieht die Nachfrage nach Hostien inzwischen wieder an, erzählt Sr. M. Raphael. Zeit für die tägliche Stunde Anbetung und für das Vorbereiten der Wortgottesdienste bleibt ihr ebenfalls. «Ich liebe die Liturgie», sagt sie strahlend, «wir haben hier so viele Freiräume», sagt die junge Oberin, die auch als Sakristanin amtet.
Gespräche führen
Zu ihren eigentlichen Führungsaufgaben gehört das Leiten der Konvente, die jeweils auf die Hochfeste hin im Refektorium stattfinden, oder – seltener – im Konfliktfall. Besonders wichtig ist es ihr, Gespräche zu führen, etwa mit den Angestellten der Hostienbäckerei und der Krankenstube oder mit dem Stiftungsrat.» Dadurch kann es vorkommen, dass sie jeweils montags «eine Sitzung nach der anderen» hat. Eigentliche Ziele für ihre Amtszeit hat sie nicht: «Ich nehme jeden Tag, wie er kommt», sagt sie ruhig. Auch die Frage nach der Zukunft des Klosters scheint ihr bislang keine schlaflosen Nächte zu bereiten. Obschon ihre Stellvertreterin Sr. Scholastika eine Maua-Schwester sei, könnten diese die Leitung des Luzerner Mutterklosters nicht übernehmen. «Kirchenrechtlich sind sie eine eigene Gemeinschaft.»
Ein Zusammenleben mit anderen Ordensgemeinschaften wie etwa beim benediktinischen Zentrum in Sarnen wäre eine Option. Denkbar ist für Sr. Raphael auch eine Erweiterung der Gemeinschaft mit Frauen, die weniger kontemplativ leben als die Schwestern, eine Art Beginen. Konkrete Schritte in diese Richtung sind derzeit jedoch nicht geplant.
In Luzern und Tansania
Das Kloster St. Anna ist seit 1498 in Luzern beheimatet, seit 1904 auf dem Gerlisberg. Die Kapuzinerinnen pflegen die tägliche Anbetung, arbeiten in Haus und Garten und betreiben eine Hostienbäckerei. 1966 gründeten drei Schwestern in Maua (Tansania) ein Kloster für afrikanische Frauen. Dieses ist seit 1995 eigenständig, zur afrikanischen Gemeinschaft gehören derzeit 100 Schwestern an fünf Standorten. Unterstützung erhalten sie von Luzerner Pfarreien und vom Verein «Pro Maua». In Luzern leben heute fünf europäische Schwestern zwischen 36 und 92 Jahren sowie fünf afrikanische zwischen 33 und 65 Jahren. Letztere bleiben jeweils für drei Jahre.
Informationen zum Kloster Gerlisberg