«Glaube ist die stärkste Energie im Menschen»

Wie kann der Glaube zur Heilung eingesetzt werden? Dieser Frage geht Heinz-Peter Röhr in seinem Buch nach. Er plädiert dafür, dass auch Kirchen das Heilende stärker ins Zentrum stellen.

 

Von Sylvia Stam |  21.09.2023

«Wenn jemand sein Leben als sinnvoll erfährt, werden dadurch Selbstheilungskräfte geweckt», ist Heinz-Peter Röhr überzeugt. Bild: i-stock

 Kirchen sollen das Heilende neu erschliessen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Wie meinen Sie das?

Heinz Peter Röhr: In der Religion fehlt etwas, wenn der heilende Aspekt ausbleibt. Die Wunderheilungen Jesu waren etwas Besonderes, das war geradezu ein Markenzeichen einer grossen Gottesnähe. Das ist heute verloren gegangen, Hunderttausende wenden sich von der Kirche ab, weil sie darin keinen Sinn mehr sehen.

Vermittelt die Kirche also zu wenig Gottesnähe?

Die Kirche hat lange darauf hingewirkt, dass die Menschen sich anpassen, sie hat Angst verbreitet.  Doch wenn Menschen zu ängstlich werden, geht etwas ganz Elementares verloren, nämlich Nähe und Vertrauen. Gottesnähe ist für die psychische Gesundheit elementar. Es ist belegt, dass gläubige Menschen gesünder sind, weil sie Vertrauen haben in einen Gott, der für sie da ist und der sie heilt.

Sie schreiben: «Man hat das Recht zu bitten und wenn der Glaube stark genug ist, wird die Bitte auch in Erfüllung gehen». Ist das nicht ein etwas naives Gottesbild? Ein Gott, der mir alles gibt, worum ich ihn bitte?

Das ist in meinen Augen kein Widerspruch. Jesus sagt: «Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Gottesreich kommen». Ich finde das sehr angemessen. Es zeugt von einem Gottesbild, das von dieser tiefen Gläubigkeit getragen ist.

Und wenn ich trotz allem Bitten nicht gesunde, glaube ich dann zu wenig?

Ein tiefer Glaube kann mit Sicherheit sehr viel bewirken, aber niemand bekommt eine Garantie, dass er oder sie geheilt wird. Ich möchte jede:n einladen, das auszuprobieren: Sich selbst die Erlaubnis geben, sich Gott nahe zu fühlen. Dann ist mehr möglich, als man zuerst glauben mag.

Gleichzeitig sagen Sie, zur Lebenskunst gehöre «die Fähigkeit, zu den Dingen ja zu sagen, die wir nicht ändern können.» Das dünkt mich ein Widerspruch zum Glauben an Heilung.

Ich bin nicht sicher, ob der Widerspruch so gross ist. Im «Vater unser» sagen wir: «Dein Wille geschehe». Für unsere seelische Gesundheit ist es von grosser Bedeutung, dass wir uns auf ein grundsätzliches Ja zum Leben einlassen und zu all den Dingen, den positiven wie den negativen.

Also Ja sagen zu meiner chronischen Krankheit und dennoch an Heilung glauben?

Je mehr sich ein Mensch gegen Unabänderliches wehrt, umso schwieriger wird seine Situation. Deshalb Akzeptieren, Hoffnung behalten und an Heilung glauben.

Ein wesentlicher Teil Ihres Buches spricht von der Befreiung von Schuld und Scham. Warum ist es wichtig, sich unschuldig zu fühlen, um zu gesunden? 

Bevor Jesus einen Kranken heilte, versicherte er ihm, dass seine Sünden vergeben seien. Erst muss die Seele gesund werden, dann kann auch der Körper heilen.

Ein Mensch, der sich schuldig fühlt, wird leichter krank. Zudem gilt, wenn jemand keine Perspektive, keinen Sinn im Leben sieht, ist dies eine günstige Voraussetzung für chronische Krankheiten. Hier ist es besonders wichtig, dass Menschen Optimismus entwickeln. Und diesen, wenn sie krank werden, eher aufbauen und daran glauben, dass sie gesund werden. Der Glaube ist die stärkste Energie im Menschen.

Das klingt sehr optimistisch. Nun gibt es aber Menschen, die von Natur aus eher skeptisch oder pessimistisch sind.

(lacht) Ja, Pessimist:innen sollten möglichst zu Optimist:innen werden. Bei Krebskranken beispielsweise ist Optimismus ein entscheidender Faktor zur Gesundung. Ich beschreibe in meinem Buch eine Methode, die ich von Martin Seligmann kenne, der sagt: Man muss solange mit sich selbst diskutieren, bis das Positive einer Situation nach vorne kommt. Menschen reden unablässig mit sich selbst; die Frage ist, wie dies geschieht. Unsere Gedanken steuern unsere Gefühle. Die Suche nach dem Positiven ist nie vergeblich.

Und wenn ich den Sinn wieder finde, werde ich auch wieder gesund?

Mit Sicherheit würde ich sagen, wenn jemand sein Leben als sinnvoll erfährt, werden dadurch Selbstheilungskräfte geweckt. Insofern ist es richtig, immer auch daran zu arbeiten, dass man aus Sinnlosigkeit und Depression rauskommt.

Haben Sie auch das so erfahren in Ihrer Tätigkeit mit Suchbetroffenen?
Unbedingt. Diejenigen, die daran glaubten, dass sie abstinent bleiben können, hatten die besten Perspektiven. Jene, die dachten: «Das geht sowieso nicht, das kann ich nicht», waren schnell wieder rückfällig.

Wie kann man daran arbeiten?

In meinem Buch schreibe ich von der Wichtigkeit, das eigene Selbstwertgefühl aufzurichten. Das kann ein Weg sein. Menschen, die ihr Leben als sinnlos empfinden, weil sie zum Beispiel aus dem Berufsleben ausgeschieden sind, können allenfalls im sozialen Bereich neuen Sinn finden. 

An Heilung glauben

Heinz-Peter Röhr (*1949) ist Pädagoge und Sozialarbeiter. Er war über dreissig Jahre an einer Klinik für Suchtbetroffene tätig. In seinem Buch «Wie ganzheitliche Heilung gelingt» spricht Röhr von der zentralen Bedeutung des Glaubens an die eigene Genesung.
Heinz-Peter Röhr: Wie ganzheitliche Heilung gelingt | Herder 2023 | ISBN 978-3-451-60399-0