Gott will keine Schubladen

Am 27. April jährte sich der Todestag der deutschen Theologin Dorothee Sölle (1929–2003) zum 20. Mal. Odilo Noti zeigt anhand des Gebots «Du sollst Dir kein Bild machen» auf, wie aktuell ihre Gedanken bis heute sind.

 

Von Odilo Noti* |  12.05.2023

Dorothee Sölle setzte sich für die Solidarität mit Unterdrückten, den Kampf gegen Aufrüstung und die Bewahrung der Schöpfung ein. Bild: epd/Boris Rostami-Rabet (1999)

Dorothee Sölle wurde bisweilen nach  ihrem Gottesbild gefragt. Darauf reagierte sie manchmal ungehalten, denn Gerechtigkeit kann man nicht filmen, den Trost nicht fotografieren, die Menschenfreundlichkeit nicht dokumentieren. Gott wird manchmal sichtbar – er steht aber nicht zur Verfügung. Deshalb kann man von ihm auch keine Bilder knipsen. Sölle macht damit auf ein uraltes Gebot aufmerksam. Es ist das zweite der Zehn Gebote aus dem Alten Testament:  «Fertige kein Gottesbild an. Mach dir auch kein Abbild von irgendetwas im Himmel, auf der Erde oder im Meer!»

Gott schützen

Es ist ein merkwürdiges Gebot. Ein Gebot aus einer anderen Zeit. Wenn man sich von Gott kein Bild machen soll, dann muss zunächst einmal Gott geschützt werden. Gegenüber kirchlichen und weltlichen Machthaber:innen, gegenüber Ideologen und Fundamentalistinnen. Das Bilderverbot richtet sich gegen all jene, die Gott und Religion für ihre unheiligen Zwecke vereinnahmen wollen. Und gegen alle, die meinen, Gott und die Wahrheit zu besitzen.

Das Gebot schützt aber nicht nur Gott. Es bezieht sich darüber hinaus auf alles, was auf der Erde ist. Das Bilderverbot schützt auch den Menschen. Alle haben wir doch so unsere Erfahrungen gemacht, dass wir in eine Schublade gesteckt werden. Als Frau musst du ja so denken, heisst es dann. Oder: Als Sechzehnjähriger kannst du nicht anders, wir waren auch mal so. Oder: Das ist wieder einmal typisch für Beamte, Welsche, Akademikerinnen oder Sozis usw.

Gegen Vorurteile und Klischees

Das Bilderverbot sagt dagegen: Gott will keine Schubladen. Soziale Schicht, Geschlecht, Anlagen, Milieu, Bildung – das sind unbestritten wichtige Faktoren. Als Mensch bin ich aber mehr. Ich gehe auch nicht auf in den Bildern, die sich andere von mir machen. Ich bin nicht nur das, was andere von mir vermuten, wissen, erwarten oder voraussagen.

Das Bilderverbot schützt auch den Menschen.
Odilo Noti

Bilder sind gefährlich. Menschen müssen vor Bildern geschützt werden. Wir reden heute statt von Götzenbildern von Klischees, Vorurteilen oder eben Schubladen. Wer zum Beispiel lange genug für dumm, unmündig und asozial erklärt wird, der oder die wird am Ende dumm, unmündig und asozial. Schlechte Lehrer:innen, absolutistische Kirchenführer und autoritäre Regierungen haben uns das immer wieder vordemonstriert.

Solidarische Freiheit

Sölle hat es so formuliert: Das zweite Gebot hütet die Freiheit des Menschen. Gemeint ist damit nicht eine Ellbogenfreiheit, die sich auf Kosten der anderen gross macht. Es ist eine solidarische Freiheit, eine Freiheit, die wir einander gewähren und zusprechen.

*Der Theologe Odilo Noti ist Präsident der Stiftung Weltethos Schweiz sowie der Herbert Haag-Stiftung