«Ich hoffe auf dezentrale Lösungen»
Missbrauchsstudie, Vertuschungsvorwürfe gegen amtierende Bischöfe, Weltbischofssynode. Felix Gmür, Bischof von Basel und Präsident der Schweizer Bischofskonferenz, steht Red und Antwort.
Bischof Felix Gmür hält es für möglich, dass einzelne Bistümer unterschiedliche Wege in Einheit mit der Kirche gehen. Bild: Christoph Wider
Bischof Felix Gmür, wann waren Sie das letzte Mal euphorisch?
Euphorisch? Als nach dem vielen Regen im Juli wieder die Sonne schien.
Was freut Sie gerade in der Kirche?
Dass es mit der Synode eine grosse Dynamik gibt.
Seit der Präsentation der Missbrauchsstudie ist ein Jahr vergangen. Was waren damals Ihre Gedanken?
Es ist sehr schlimm, was da alles passiert ist, und zwar wegen der betroffenen Menschen, weil da so viel Vertrauen missbraucht wurde. Wir müssen das erstens aufarbeiten und uns dem Leid der Betroffenen stellen. Und zweitens müssen wir alle nur möglichen Schritte unternehmen, dass das nicht wieder vorkommen kann.
Welche Massnahmen konnten Sie inzwischen umsetzen? Welche Fortschritte wurden erreicht?
Wir haben fünf Massnahmen beschlossen. Erstens geht es um die professionelle Opferberatung. Da sind wir mit den kantonalen Opferberatungsstellen im Kontakt. Wir sind dabei, das zu finalisieren. Das erfordert viel Kommunikation. Anfang 2025 gibt es dazu Informationen. Es geht darum, dass es in allen Sprachregionen wirklich unabhängige Anlaufstellen gibt. Diese Stellen sind für die Betroffenen und für Angehörige. Die Meldungen werden weiterhin in den jeweiligen Bistümern, Landeskirchen oder Ordensgemeinschaften bearbeitet, wenn die betroffenen Personen das wollen. Eine Person hat auch das Recht, dass es zu keiner Anzeige kommt, wenn sie das wünscht. Die staatlichen Opferberatungsstellen sind ja die einzigen Stellen, die keine Anzeigepflicht haben, kirchliche und andere staatliche Stellen hingegen schon. Das garantiert den Betroffenen absolute Unabhängigkeit.
Zweitens geht es um die psychologische Abklärung von künftigen Seelsorgerinnen und Seelsorgern. Da arbeiten wir mit einer Stelle zusammen, die Assessments macht für Kaderleute. Hier müssen wir noch abklären, was die speziellen Erfordernisse im kirchlichen Bereich sind. Ich rechne damit, dass diese Massnahme auf das Studienjahr 2025/26 eingeführt werden kann. Auch das ist komplex, denn die Abklärung ist sehr unterschiedlich, je nachdem, ob es um jüngere oder ältere Bewerberinnen und Bewerber geht. Wichtig ist für uns: Erst wenn die Qualität passt, kann die Massnahme umgesetzt werden.
Drittens haben wir bei den Personaldossiers klare Standards eingeführt. Da geht es auch darum, dass Schulungen entwickelt werden können. Es geht ja nicht nur um die Personaldossiers in den Bistümern, auch jede Kirchgemeinde hat ihre Unterlagen. Die Selbstverpflichtung, keine Akten zu vernichten, die mit Missbrauch zu tun haben, haben inzwischen alle Bistümer, die Pfarreien, fast alle Landeskirchen und die Ordensgemeinschaften unterschrieben.
Viertens: Beim Strafgericht, ich war ja mit Bischof Joseph Maria beim Papst, warten wir noch auf die Antwort aus Rom, dann können wir das designen.
Und fünftens: Die weiterführende Forschung bis 2026 haben wir auch beschlossen. Es geht etwas weiter, und zwar kontinuierlich. Wenn Verbände und andere Institutionen beteiligt sind, dann muss man eben immer wieder auf Antwort und Fortschritte warten und das dauert dann seine Zeit.
Und im Bistum Basel? Was hat sich hier verändert?
Wir haben die Behandlung der Meldungen von Missbrauchsvorwürfen vereinheitlicht und standardisiert. Jede Meldung geht an eine externe unabhängige Koordinationsperson. Wenn zum Beispiel eine Pastoralraumleiterin uns etwas meldet, leiten wir das sofort weiter. Auch die Forscherinnen haben jederzeit Zugriff auf diese Unterlagen und die Ergebnisse werden regelmässig kommuniziert. Bei den neueren Fällen gibt es glücklicherweise keine sehr schlimmen Übergriffe. Eine Vergewaltigung, das ist ja klar, da geht man zur Polizei. Das hatten wir Gottseidank bei den neueren Meldungen nicht mehr.
Da geschieht also sehr viel. Gleichzeitig passieren immer wieder Fälle wie die Verhaftung eines Tessiner Jugendseelsorgers Anfang August. Obwohl das Bistum mit den Behörden voll kooperiert, entsteht der Eindruck: Schon wieder Missbrauch in der Kirche! Ist das nicht ein Kampf gegen Windmühlen?
Das ist eine Katastrophe. Der Administrator Bischof Alain de Raemy war wirklich schockiert, es sind alle schockiert. Zugleich habe ich gelesen, dass in der Ostschweiz ein Lehrer mit einer 15-jährigen Schülerin in die Ferien fährt. Wie kann das heute noch passieren? Ich kann auch nicht die Hand ins Feuer legen, dass nichts passiert. Das kann ich nicht. Die Menschen sind, wie sie sind. Aber wenn etwas passiert und wir erfahren davon, dann wird sofort Anzeige erstattet und das funktioniert gut.
Wie haben Sie den Kontakt mit Missbrauchsbetroffenen erlebt?
Die ganze Bischofskonferenz hatte Kontakt mit Vertreterinnen und Vertretern der Betroffenen. Das hat wirklich die Wahrnehmung verändert. Die Schilderungen einer betroffenen Person machen auch mich als Zuhörer zu einer Art Mitbetroffenem. Das hat alle sehr mitgenommen. Auch im Basler Bischofsrat hatten wir einen Austausch mit Betroffenenorganisationen. Die Leute aus dem Bischofsrat haben damals in Delsberg wirklich nach Worten gerungen, um ihrer Trauer, ihrer Wut und ihrer Betroffenheit Ausdruck zu verleihen. Das Verbrechen bekommt ein Gesicht, wenn man mit Betroffenen redet. Und das verändert, indem man besser wahrnehmen kann, was das in diesen Leuten zerstört hat, auch wenn man das nie richtig nachvollziehen kann. Aber ich kann etwas von der tiefen Verletzung spüren.
Und diese Verletzung wird jetzt auf allen Ebenen herangelassen.
Es wird zugelassen. Und das inspiriert auch zum Handeln. Aber es ist auch schwierig, solche Geschichten zu hören, das sagen auch die Juristinnen. Das lässt einen ja nicht kalt. Ich nehme an, dass es Staatsanwälten ähnlich geht. Wir kennen das ja aus der Seelsorge, dass einen Einzelschicksale sehr mitnehmen können.
Bischof Bonnemain hat Anfang des Jahres die Ergebnisse einer kanonischen Voruntersuchung an das Dikasterium für die Bischöfe in Rom eingereicht. Es ging dabei um Vorwürfe gegen emeritierte und amtierende Mitglieder der Schweizer Bischofskonferenz, nicht adäquat mit Fällen sexuellen Missbrauchs umgegangen zu sein. Was ist der Stand der Dinge?
Zuständig ist das Dikasterium für die Bischöfe – und ich weiss nichts. Ich habe gestern noch Bischof Bonnemain gefragt – er weiss auch nichts.
An wen wird die Antwort gehen?
Auch das wissen wir nicht. Sicher wird die Antwort an jene gehen, gegen die sich die Vorwürfe richten.
Das mutmassen Sie jetzt?
Ja, ich nehme es an. Und ich nehme an, dass die Antwort über die Nuntiatur kommen wird. Ich hoffe ausserdem, dass die eingehende Antwort dann gerade alle untersuchten Fälle behandeln wird. Ich habe selber nach Rom geschrieben und gesagt, wir brauchen jetzt die Resultate.
Sie haben in Rom nachgehakt?
Ja, als Präsident der Bischofskonferenz habe ich Ende Juni in dieser Sache nach Rom geschrieben.
Haben Sie Antwort erhalten?
Nein, es kam noch keine Antwort. Sie sind jetzt aber auch in den Ferien. Aber sie wissen es. Sie haben eben auch viele, viele Akten zu bearbeiten.
Sobald die Antwort da ist: Wird sie öffentlich gemacht?
Das wird sicher öffentlich gemacht.
Von wem?
Das weiss ich nicht. Es ist das im Grunde auch keine Angelegenheit der Bischofskonferenz. Aber es ist für mich klar, dass es kommuniziert werden muss. Die Menschen warten darauf, sie haben auch ein Recht sowie ein Interesse zu wissen: War da jetzt etwas oder war da nichts.
Falls keine Antwort kommt, würden Sie nochmals nachhaken?
Ich bin ja im Oktober in Rom, da könnte ich nachhaken. Ich weiss vom zuständigen Erzbischof, dass in seinem Dikasterium genau gearbeitet wird. Das finde ich korrekt so. Das braucht eben auch seine Zeit.
Welche Erwartungen haben Sie an die Synode in Rom?
Ich habe die Erwartung, dass die Kirche merkt: Wir haben den gemeinsamen Auftrag, die Hoffnung von Jesus Christus in diese Welt zu tragen und die Leute zu unterstützen, ein würdiges und gutes Leben zu führen – in Geschwisterlichkeit und Frieden. Dass wir uns nicht auseinander dividieren lassen. Gleichzeitig hoffe ich, dass es für manche Fragen dezentrale Lösungen gibt. Im Bistum Basel ist es für Theologinnen und Theologen normal, dass sie in einer Eucharistiefeier die Predigt halten können. In anderen Bistümern ist das nicht vorgesehen. Für uns ist das aber wichtig, dass man anerkennt: Es haben nicht alle dieselben Themen.
Es ist schön, dass Sie die Laienpredigt verteidigen. Aber angesichts des „Reformstaus“, bräuchten wir da nicht grössere Schritte?
Doch, die brauchen wir. Und die grösseren Schritte sind, dass einzelne Regionen manche Fragen selber entscheiden können. Seit dem Konzil gibt es Ständige Diakone, manche Bischofskonferenzen haben das eingeführt, andere nicht. Da hat man also gesehen: Wenn es dem Glauben dient, das ist das Kriterium, dann kann man das machen. Und wer das nicht will, der muss nicht. Das könnte man auch auf die Weihe von Diakoninnen anwenden, dass man unterschiedliche Wege in Einheit mit der ganzen Kirche geht.
Welches Thema wäre da für sie vorrangig?
Für mich ist es ganz wichtig, dass die Frage des Diakonats der Frau geklärt wird. Und zwar nicht irgendein Sonderdiakonat nur für Frauen, sondern sie sollen ganz normale Diakoninnen sein, weil sie das de facto oft schon jetzt sind. Ein weiteres Anliegen von mir ist die Dezentralisierung.
Ich möchte Ihnen gerne eine Frage stellen, auf die ich mir ein einfaches «ja» oder «nein» wünsche. Es ist das eine ontologische Frage, also eine, die sich auf das Wesen von Frauen bezieht: Können Frauen sakramental zu Priesterinnen geweiht werden?
Ja, wieso nicht? Aber ist die Frage nach der Weihe wirklich eine ontologische?
Es wird in der katholischen Kirche zumindest gerne so argumentiert.
Ich bin zurückhaltend mit Wesensbeschreibungen. Es ist problematisch, wenn der Papst sagt, die Frau sei lieblich und freundlich und zärtlich. Vielleicht ist diese Argumentation eine Sackgasse? Die Frage ist die der Gottebenbildlichkeit. Wenn wir sagen, das ist eine Wesensfrage, meinetwegen, aber dann sind wir in der griechischen Philosophie. Es geht nicht um das Wesen der Frau, sondern um das Wesen des Menschen. Und es geht um Christus. Im Evangelium heisst es: Das Wort ist Fleisch geworden (Joh 1,14). Fleisch, also Mensch, nicht nur Mann.
Als Bischof sind Sie Souverän und niemand in ihrem Bistum kann Sie in die Verantwortung nehmen. Wie geht es Ihnen damit?
Sie sprechen wie ein juristischer Text, der wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat.
Wie ist denn die Wirklichkeit?
Natürlich kann ich theoretisch alles entscheiden – und dann? Am Schluss stünde ich allein da und müsste abdanken. Sie behaupten – und meinetwegen stimmt das auf dem Papier auch – dass der Bischof eine Person ohne Beziehungen wäre. Das ist nicht der Fall. Weder menschlich – der Bischof ist ja auch Mensch – aber auch im Amt stimmt das nicht. Unsere Ordnung ist nicht einfach eine Pyramide, an deren Spitze der Bischof steht, entscheidet und alle machen es dann. Das gilt wenigstens für das Bistum Basel. Auch früher haben Pfarrer schon durchaus gemacht, was sie wollten.
Wie würden Sie Ihren Gestaltungsspielraum als Bischof beschreiben?
Mit der Synode haben wir einen Umbau von der Pyramide zum Netzwerk. Der Gestaltungsspielraum des Bischofs ist, dass er sich überall einbringen darf. Natürlich muss er am Ende gewisse Dinge entscheiden. Würde ich aber immer gegen alle entscheiden, würde es nicht funktionieren, weil niemand mitzieht.
Auf der anderen Seite: Jemand muss auch mal eine Entscheidung treffen. Welche Entscheide sehen Sie in Ihrer Möglichkeit und Verantwortung?
Meine Entscheide sind auf Ebene Bistum und auf Ebene Personal mit Missio canonica. Meine Entscheidungen sind meist motivatorischer Art, das heisst, ich motiviere die Leute, in einer gewissen Weise zu handeln. Wie gesagt: Meine Macht ist vor allem auf dem Papier, denn ich bin auf die Menschen angewiesen.
Machen Sie es sich da nicht ein bisschen einfach?
Im Gegenteil, das ist sogar viel schwieriger. Nehmen Sie Jesus: Er hatte seinen 12er Kreis und ohne den 12er Kreis wäre nichts weitergegangen. Wir sind aufeinander angewiesen, aber einer muss hinstehen, einer muss zusammenfassen, vielleicht eine Richtung vorgeben oder etwas bremsen.
Welches Bild haben Sie von Ihrer eigenen Bischofsrolle?
Ich bin gerne mittendrin und manchmal schaue ich von aussen, wie sich die Dinge entwickeln. Manchmal muss ich auch sagen: Nein, hier lang und nicht anders, weil ich es nicht anders verantworten kann.
Wann haben Sie das letzte Mal «nein» gesagt?
Als das Luzerner Kirchenparlament einen Teil der Zahlungen ans Bistum unter Vorbehalt gestellt hat und mit Forderungen verknüpft hat.
Sie waren mit Rücktrittsforderungen konfrontiert. Was haben diese mit Ihnen gemacht?
Mich hat vor allem eines gewundert: Wie schnell man meint, wenn Menschen gehen, würde alles anders. Auch hat mich gewundert – und persönlich verletzt, dass man Menschen weghaben will auf Grund von Vorwürfen, die nicht stimmen. Was mich ein bisschen sauer gemacht hat und noch heute sauer macht: dass Menschen mitreden wollen, die sich wenig mit der Sache auseinandersetzen. Das staatskirchenrechtliche System in der Schweiz ist kompliziert und man muss es erst verstehen, ehe man mitredet.
An welche Vorwürfe denken Sie konkret, die nicht gestimmt hätten?
Man hat mir vorgeworfen, ich hätte etwas vertuscht – und das stimmt einfach nicht. Ich habe mich ja selbst angezeigt.
Mögen Sie Ihr Amt als Bischof?
Ja, ich bin gerne Bischof, ich wäre aber auch gerne Pfarrer. Ich mag es, mit verschiedenen Menschen zu ringen, zu verhandeln und unterwegs zu sein.
Bischof Joseph Maria Bonnemain hat vor Kurzem von einem Erlebnis mit einem Sterbenden erzählt, das ihn gelassener gemacht hat. Der Kranke hatte zu ihm gesagt: «Sie sind mir zu gescheit, ich brauche einen dicken, alten Kapuziner.» Haben Sie auch so ein pastorales Lernerlebnis?
Als ich in Basel Vikar war, wurde ich einmal auf die Intensivstation gerufen. Auf dem Weg dorthin kam mir der reformierte Pfarrer entgegen: „Ah, du musst zu der Familie. Ich habe denen schon eine Art Krankensalbung gespendet, aber ich habe ihnen auch gesagt: ͵Ich kann das gar nicht richtig.´ Da haben die Leute gesagt: ͵Ja, aber Sie sind jetzt da und der liebe Gott macht es dann schon richtig!´“ Das ist mir geblieben: Am Schluss weiss ich, dass ich nicht zuständig bin. Am Schluss ist der liebe Gott zuständig und natürlich jeder Einzelne selber. Das relativiert auch die Aufgabe.
Das Gespräch führten Klaus Gasperi, Pfarreiblatt Uri Schwyz und Veronika Jehle, forum Pfarrblatt Zürich