Kirche kommuniziert nicht proaktiv
Werden Kleriker, die Sexualdelikte begangen haben, exkommuniziert? Hat eine Gefängnisstrafe für einen Bischof auch kirchenrechtlich Folgen? Stefan Loppacher, Kirchenrechtler und Präventionsbeauftragter, steht Red und Antwort.
Der Umgang der katholischen Kirche mit Klerikern, die Sexuakdelikte begehen, ist undurchsichtig. Symbolbild: Manuela Matt
Können Priester und Bischöfe strafrechtlich belangt werden?
Priester und Bischöfe sind Bürger wie jeder andere und unterstehen dem Schweizer Strafgesetzbuch. Vor 100 Jahren wäre diese Frage allerdings nicht so klar zu beantworten gewesen. Noch im kirchlichen Gesetzbuch von 1917 hat die Kirche beansprucht, dass Kleriker in Spitzenpositionen, also Bischöfe, Kardinäle oder Nuntien nicht der weltlichen Justiz unterstehen, sondern allein dem Urteil der Kirche.
Warum hat der Staat nicht schon lange eingegriffen, wenn doch bekannt ist, dass innerhalb der Kirche so viel Missbrauch geschehen ist?
Im angelsächsischen Raum wurden viele Aufarbeitungsprozesse durch den Staat in Gang gesetzt. In verschiedenen Bundesstaaten in Amerika hat die Oberstaatsanwaltschaft weitflächig Ermittlungen eingeleitet, alle Akten der Bistümer konfisziert und veröffentlicht. Ein solches Vorgehen ist in kontinentaleuropäischen Ländern bis heute undenkbar.
Warum?
Es ist Ausdruck einer anderen Rechtskultur, hat aber auch mit dem historischen Verhältnis von Religion und Staat zu tun. In der Schweiz sind Religionsangelegenheiten kantonal geregelt. Die Behörden halten sich in solchen Fragen tendenziell eher zurück. Ob das so bleiben wird, wird sich zeigen.
Die staatliche Justiz muss absolute Priorität vor der kirchenrechtlichen Strafverfolgung haben. Stefan Loppacher
Sind die staatliche Justiz und das kirchenrechtliche Verfahren zwei ganz eigene Systeme, die unabhängig voneinander eine Untersuchung durchführen und allenfalls ein Urteil fällen?
Das ist so. Die staatliche Justiz muss dabei absolute Priorität vor der kirchenrechtlichen Strafverfolgung haben, weil die Kirche keine vergleichbaren Mittel für die Ermittlung hat. Die Kirche hat keine Polizei, sie kann keine Hausdurchsuchungen durchführen und keine Untersuchungshaft anordnen.
Kann eine Person, die sexuelle Gewalt im kirchlichen Umfeld erfährt, sich direkt an die staatliche Justiz wenden, oder muss sie sich an die Anlaufstelle des Bistums wenden?
Es wäre absurd, wenn die Organisation, aus welcher der Täter, die Täterin stammt, hier Ansprüche oder Verbote aufstellen würde. Jede:r Bürger:in kann und soll sich direkt an die nächste Polizeistelle wenden oder an eine kantonale Opferberatungsstelle, um sich da beraten zu lassen.
Über Jahrzehnte hat die Kirche überhaupt nicht mit den staatlichen Behörden kooperiert. Stefan Loppacher
Was ist genau die Aufgabe der kirchlichen Anlaufstellen?
Die Meldestellen der Kirche sind lediglich ein zusätzliches Angebot für Betroffene, die das Bedürfnis haben, das Vorgefallene auch der Kirche zu melden oder einen Antrag auf eine Genugtuungszahlung machen möchte. Dies kann sein, weil eine Ermittlung durch die Polizei nicht mehr möglich ist, weil die Verjährungsfrist abgelaufen ist oder das Verfahren eingestellt wurde. Oder weil die betroffene Person überzeugt ist, dass die Kirche wissen muss, was da geschehen ist.
Ein Bischof braucht ein Team von Fachleuten aus Justiz und Psychologie. Stefan Loppacher
Wenn eine betroffene Person einen Missbrauchsfall dem Bistum meldet, ist das Bistum dann verpflichtet, den Fall der staatlichen Justiz zu melden?
Über viele Jahrzehnte hat die Kirche überhaupt nicht mit den staatlichen Behörden kooperiert, mit verehrenden Folgen. Vor 20 Jahren haben sich die Bischöfe mit eigenen Richtlinien verpflichtet, das nun zu tun, und bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch Anzeige zu erstatten. Die Frage, wer zu welchem Zeitpunkt Anzeige erstattet, ist jedoch sehr heikel. Ein Automatismus ist hier fehl am Platz. Vielmehr müssen in jedem einzelnen Fall verschiedene Güter gegeneinander abgewogen werden: Der Wille der betroffenen Person und der Schutz ihrer Interessen einerseits, andererseits sind weitere Personen vor Schaden zu schützen. Dazu kann eine Strafanzeige nötig sein. Um hier schnell zu einer guten Entscheidung zu kommen, braucht ein Bischof ein Team von Fachleuten aus Justiz und Psychologie.
Wie würde der gleiche Fall kirchenrechtlich aussehen? Ist der Bischof verpflichtet, den Fall an Dikasterium für die Glaubenslehre, vormals Glaubenskongregation, zu melden?
Ein Bischof hat seit 2001 eine Meldepflicht an das Dikasterium für die Glaubenslehre in Rom bei Sexualdelikten gegen Minderjährige durch Kleriker. Diese gilt, wenn die betroffene Person zum Zeitpunkt der Tat unter 18 Jahre alt war. Der Bischof ist in solchen Fällen verpflichtet eine Voruntersuchung einzuleiten. Deren Ergebnisse muss er in jedem Fall an die Glaubenskongregation in Rom weiterleiten, welche dann über das weitere Vorgehen entscheidet.
Was passiert kirchenrechtlich, wenn die betroffene Person schon volljährig war?
Dann gibt es diese Meldepflicht nach Rom nicht, der Bischof ist aber dennoch verpflichtet, der Sache nachzugehen und auf Bistumsebene eine Untersuchung einzuleiten und gegebenenfalls ein kirchliches Strafverfahren durchzuführen.
Können Vergehen kirchenrechtlich auch verjährt sein?
Ja. Die Verjährungsfristen waren über Jahrzehnte deutlich kürzer als beim staatlichen Sexualstrafrecht. Bei Delikten gegenüber Minderjährigen wurden sie 2001 und 2010 nochmals angehoben. Aktuell sind es 20 Jahre, die ab dem 18. Lebensjahr zu laufen beginnen. Bei schweren Sexualdelikten durch Kleriker gegen Minderjährige kann das Dikasterium für die Glaubenslehre die Verjährungsfristen aufheben. Damit ist es im Einzelfall möglich, auch nach Ablauf der Frist noch ein Strafverfahren zu eröffnen. Bei Betroffenen, die zur Tatzeit bereits erwachsenen waren, dauert die Verjährungsfrist sieben Jahre.
Es ist nicht am Bischof, zu prüfen, wie scherwiegend ein Fall ist. Stfean Loppacher
Muss ein Bischof einen Fall auch an das Dikasterium für die Glaubenslehre weiterleiten, wenn diese Verjährungsfrist abgelaufen ist?
Ja, denn es ist nicht am Bischof, zu prüfen, wie scherwiegend ein Fall ist. Auch die Frage, ob in einem konkreten Fall die Verjährungsfristen bereits abgelaufen sind, ist juristisch komplex.
Angenommen, ein Bischof reicht dem Papst seinen Rücktritt ein, der Papst nimmt diesen jedoch nicht an. Kann der Bischof trotzdem zurücktreten oder ist er dem Papst gegenüber zu Gehorsam verpflichtet?
Streng kirchenrechtlich betrachtet, kann er nicht zurücktreten. Meiner Meinung nach kann er es aber de facto schon. Ein Bischof hat auch eine eigene Verantwortung für die Kirche, für die er sich eingesetzt hatte. Es gibt meiner Ansicht nach einen Punkt, an dem sich ein Bischof überlegen muss: «Kann ich es noch verantworten, weiter in dieser Kirche in einer Spitzenposition tätig zu sein? Oder richte ich mehr Schaden an, wenn ich bleibe, als wenn ich zurücktrete?» Es kann unter Umständen legitim und notwendig sein, dass ein Bischof dem Papst und den Behörden in Rom sagt: «Es tut mir leid, dass ihr das nicht versteht, aber ich kann nicht weiter Bischof sein». Mir ist allerdings kein solcher Fall bekannt.
Liegt das am Gehorsam, den der Bischof dem Papst versprochen hat? Oder ist es einfacher, die Verantwortung an den Papst abzugeben?
Es hat mit einer Loyalität zum System zu tun, die sich hier negativ auswirkt. Ein Schweizer Bischof riskiert materiell nicht viel, wenn er mit 63, 75 oder 83 Jahren aufhört, Diözesanbischof zu sein. Er ist finanziell abgesichert.
Angenommen, ein Bischof wird strafrechtlich zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Hat das auch kirchenrechtlich Folgen?
Wenn ein staatliches Gericht ermittelt hat und das Vergehen des Bischofs als so schwerwiegend betrachtet, dass er dafür ins Gefängnis muss, dann muss das aus meiner Sicht auch kirchenrechtlich Konsequenzen haben. Automatisch ist das aber nicht der Fall. Über Bischöfe und ihr Schicksal entscheidet nur die Bischofskongregation und letztlich der Papst.
Was passiert, wenn sich im Rahmen der Studie herausstellt, dass amtierende Schweizer Bischöfe Täter versetzt haben, statt sie der Justiz oder nach Rom zu melden?
Wenn es einen Verdacht gibt für eine Sexualstraftat eines Klerikers gegen Minderjährige, und nichts unternommen wurde, dann handelt es sich um eine schwere Pflichtverletzung. Mit dem Kirchengesetz von 2019 wird das Behindern oder Verschleppen einer kirchenrechtlichen Ermittlung oder das Behindern der staatlichen Justiz kirchenrechtlich unter Strafe gestellt.
Was für Strafen sind da vorgesehen?
Das ist nicht definiert. Es können Disziplinarmassnahmen sein, wie eine zeitweise Freistellung, bis hin zur Amtsenthebung bzw. Absetzung des betreffenden Bischofs.
Die Gründe für einen Bischofsrücktritt werden in der Regel nicht kommuniziert. Stefan Loppacher
Gab es das tatsächlich?
Ja das gibt es, nur ist oft nicht klar, weshalb genau ein Bischof zurücktreten muss, da die Gründe vom Heiligen Stuhl in der Regel nicht kommuniziert werden. Wenn 10 Monate zuvor aus einer Studie hervorging, dass dieser Bischof Missbrauchsfälle vertuscht hat, dann besteht da vermutlich ein Zusammenhang. Aber man weiss oft nicht, wie es zum Rücktritt kam: Ob der Bischof den Rücktritt selber eingereicht hat oder ob eine Untersuchung durchgeführt wurde, die zu seiner Absetzung führte.
Das heisst, wenn ein solch kirchenrechtliches Verfahren keine Folgen für den Bischof hat, erfährt die Öffentlichkeit das auch nicht.
Sie erfährt es nur, indem der Bischof im Amt bleibt. Proaktive Kommunikation ist für die Kirche ein Fremdwort, wenn es um schwierige Angelegenheiten und um Kaderleute geht.
Für Kleriker ist die Höchststrafe die Entlassung aus dem Klerikerstand. Stefan Loppacher
Es könnte ja auch sein, dass ein Bischof zu Unrecht verdächtigt wird.
Wenn ein Bischof beschuldigt wird, Fälle vertuscht zu haben, hat er auch ein Recht darauf, dass sorgfältig abgeklärt wird, was genau der Sachverhalt war, welche Pflichten zu welchem Moment galten, ob er Entscheide alleine getroffen hat, ob andere mitverantwortlich sind. Wenn sich am Schluss der Ermittlungen der Anfangsverdacht nicht bestätigt, so gilt es den Ruf der verdächtigten Personen zu schützen, indem man seine Unschuld kommuniziert, falls auch die Vorwürfe bereits öffentlich bekannt waren. Die sorgfältige Kommunikation geschieht jedoch selten bei solch heiklen Angelegenheiten.
Was ist die Höchststrafe für Kleriker?
Für Kleriker ist die Höchststrafe die Entlassung aus dem Klerikerstand. Das kommt de facto einem lebenslangen Berufsverbot gleich. Damit haben sie keine Grundlage mehr, um als Priester oder Bischof in der Kirche zu arbeiten. Diese Strafe wurde die letzten 20 Jahre weltweit in Hunderten von Fällen verhängt, auch gegen Bischöfe und Kardinäle.
Was geschieht kirchenrechtlich, wenn die Tat von einem Seelsorger mit Missio, aber ohne Weihe, verübt wurde?
Im Jahr 2021 wurde das kirchliche Strafrecht überarbeitet. Seither können auch nicht geweihte kirchliche Mitarbeiter:innen kirchenrechtlich für Sexualdelikte belangt werden. Als Höchststrafe können sie ihre kirchliche Beauftragung verlieren und über die Anstellungsbehörde auch ihre Stelle.
In welchen Fällen wird jemand exkommuniziert, also aus der Gemeinschaft der katholischen Kirche ausgeschlossen?
Die Exkommunikation wird bei sexuellen Gewalttaten nicht ausgesprochen. Das ist eine kirchenübliche Strafe bei Delikten gegen die Einheit der Kirche oder gegen die Heiligkeit der Sakramente. Wenn jemand zum Beispiel eine geweihte Hostie am Boden zertritt, um den Bischof zu ärgern. Die Strafe gilt in der Regel auf Zeit, nämlich so lange, bis die betroffene Person umkehrt und ihre Tat bereut.
Haben die Betroffenen in einem kirchlichen Verfahren irgendwelche Rechte?
In einem weltlichen Strafrechtsfall hat eine betroffene Person verschiedene Rechte auf Information, auf Schutz und auf Beteiligung am Verfahren. Sie hat zum Beispiel das Recht über verschiedene Schritte der Justiz und über den Ausgang des Verfahrens informiert zu werden, also ob der Täter, die Täterin verurteilt oder freigesprochen wurde. Über ihren Anwalt hat sie Einblick in die Verfahrensakten, in die Aussagen der beschuldigten Person. Sie kann Berufung einlegen, wenn sie mit dem Urteil nicht zufrieden ist. All diese Rechte hat die betroffene Person im kirchlichen Strafrecht nicht.
Das Kirchenrecht hat die von einem Verbrechen betroffenen Personen juristisch gesehen immer noch nicht im Blick. Stefan Loppacher
Sie erfährt also auch nicht, wie das Verfahren nach der Meldung ausging?
Sie erfährt es nur durch Zufall oder durch den Goodwill der jeweiligen Bistumsleitung oder des Offizials, also des Kirchenrichters, der das Verfahren leitet. Selbst wenn das kirchenrechtliche Verfahren strafrechtliche Folgen für den Täter hat, wird das der betroffenen Person nicht automatisch kommuniziert. Es gibt auch keine Instanz, wo man das einfordern könnte.
Wie ist das möglich?
Hintergrund ist eine kirchenjuristische Kultur, in der die Betroffenen schlichtweg keine Rolle gespielt haben. Denn das kirchliche Sexualstrafrecht kommt aus der Tradition eines reinen Disziplinar- und Bussstrafrechts, bei dem es nur darum geht, die Zölibatsdisziplin der Kleriker einzufordern und den Verstoss dagegen allenfalls zu sanktionieren. Das Kirchenrecht hat die von einem Verbrechen betroffenen Personen juristisch gesehen immer noch nicht im Blick.
Wie könnte man das ändern?
Der Papst ist der Einzige, der das kirchliche Strafprozessrecht ändern kann. In der Öffentlichkeit wird das schon lange gefordert, auch unter Kirchenrechtler:innen. Ob sich die Dikasterien in Rom mit dieser Frage aktiv beschäftigen, kann ich nicht beurteilen. Es wäre dringend nötig.
Wird es nach der Publikation der Studie bei der Staatsanwaltschaft eine Stelle geben, die sich um jene kirchlichen Missbrauchsfälle kümmert, die nicht verjährt sind und vom Staat verfolgt werden müssen?
Es braucht keine besondere Stelle dafür. Wenn die Forschenden im Rahmen ihrer Forschung auf aktuelle Fälle stossen, bei denen der Verdacht auf eine Straftat besteht, dann sind sie aufgrund der kantonalen Gesetzgebung verpflichtet Strafanzeige zu erstatten.
Welchem staatlichen Strafrecht würde der Papst unterliegen, wenn er sich eines Übergriffs schuldig machen würde?
Der Papst unterliegt dem Strafrecht des Vatikanstaates. Ob er dafür belangt werden könnte, hängt von der Verfassung des Vatikanstaates ab. Diese kenne ich zu wenig, um hierüber genau Auskunft geben zu können. Auf jeden Fall ist es sehr unwahrscheinlich, dass in einem theokratischen Kleinstaat gegen das eigene religiöse Staatsoberhaupt ermittelt wird.
Dies ist ein Beitrag aus der Kooperation der Arbeitsgemeinschaft der Pfarrblattredaktionen der Deutschschweiz (arpf.ch)
Foto: zVg
Stefan Loppacher ist Kirchenrechtler und Leiter des Fachgremiums "Sexuelle Übergriffe im kirchlichen Umfeld" der Schweizer Bischofskonferenz. Ausserdem ist er Präventionsbeauftragter im Bistum Chur.