Manipulation im Namen Gottes

Wenn Menschen in ihrer geistlichen Selbstbestimmung verletzt werden, spricht man von spirituellem Missbrauch. Doris Reisinger, Fachfrau und Beraterin zum Thema, sieht Ursachen dafür im Kirchenrecht.

 

Von Sylvia Stam |  14.05.2024

«In der katholischen Kirche gibt es Normen und ein Kirchenbild, die spirituelle Übergriffigkeit vorschreiben», sagt Doris Reisinger. Bild: Andrea Schombara

Spiritueller Missbrauch bedeutet im Kern die Verletzung der spirituellen Autonomie eines Menschen. Können Sie ein Beispiel aus dem Pfarreileben nennen?

Doris Reisinger: Nehmen wir die Vorbereitung zur Erstkommunion*. Laut Kirchenrecht gilt die Pflicht zur Beichte vor der Erstkommunion. Das Kind will vielleicht zur Erstkommunion, aber nicht zuerst beichten. Ein Kind zu nötigen, dass es einem fremden Erwachsenen das eigene Gewissensleben offenlegt, ist ein Übergriff in das geistliche Innenleben dieses Kindes.

Dann darf die Kirche keine Bedingung stellen, bevor sie ein Sakrament wie die Firmung oder die Erstkommunion spendet?

Wir haben sakramententheologisch die Taufe als Voraussetzung für den Empfang aller anderen Sakramente. Das ist in Ordnung, weil die Taufe die Initiation in das Glaubensleben ist und mich gleichzeitig zum Kirchenmitglied macht. Aber die Pflicht zur Beichte ist übergriffig. Auch Straftäter werden nicht gezwungen zur Beichte zu gehen, bevor sie kommunizieren dürfen. Wir wissen, dass das für Kinder oft belastend ist, viele haben Angst davor oder wissen nicht, was sie sagen sollen.

Sollen Menschen denn unvorbereitet Sakramente empfangen?

Natürlich kann es sein, dass Menschen nicht wirklich bereit sind für den Empfang eines Sakraments. Aber diese innere Bereitschaft kann man von aussen nicht sicherstellen. Das muss ich diesen Menschen überlassen. Es ist etwas anderes, wenn Sakramente zugleich Rechtsakte sind. Bei der Eheschliessung ist es wichtig, ein gewisses Alter vorauszusetzen.

Es gibt in der katholischen Kirche die Pflicht, sonntags in den Gottesdienst zu gehen. Ist das demnach auch übergriffig?

Ja. Eine Gottesdienstteilnahme muss dem eigenen, freien Willen entspringen. Wenn ich das als Bedingung verlange für einen anderen Glaubensvollzug, dann ist diese Freiwilligkeit in Frage gestellt. Zum andern steckt dahinter die Idee, ich könnte von aussen feststellen, dass jemand einen bestimmten Glaubensakt vollzogen hat. Das ist jedoch nicht sichtbar.

Dann schreibt das Kirchenrecht also spirituell missbräuchliches Verhalten vor.

Ja, in der katholischen Kirche gibt es Normen und ein Kirchenbild, die diese Übergriffigkeit vorschreiben. Die Vorstellung, dass die kirchliche Autorität das Recht und die Pflicht hat, in das Glaubensleben und in das innere Leben der Menschen einzugreifen, ist tief in der Kirche verankert. Dies steht aber quer zu einem theologischen und seelsorgerlichen Konsens, der besagt, dass man Glaubensakte nicht erzwingen kann und dass sie aus freien Stücken vollzogen werden müssen.

Es gibt also zwei widersprüchliche Traditionen in der katholischen Kirche?

Ja, wir haben eine autoritäre, tendenziell übergriffige Traditionslinie und wir haben eine freiheitliche, die das Gewissen und die Freiheit der Menschen respektiert. Diese beiden  Linien sind inkompatibel. Dieser Widerspruch macht die Beschäftigung mit spirituellem Missbrauch so explosiv. Wenn man das Thema ernst nimmt, müssten kirchliche Normen revidiert werden.

Wenn man die Autonomie der Gläubigen respektiert, wie kann Kirche dann als Gemeinschaft von Gläubigen bestehen, wenn  jede/r glauben kann, was er oder sie will? Braucht es nicht eine Instanz, die den Glauben «hütet»?

Das sind zwei verschiedene Themen. Da geht es einerseits um Glaubensinhalte, die wir als Gemeinschaft der Gläubigen der katholischen Kirche pflegen. Da ist durchaus eine  Vielfalt vorhanden, und doch gibt es Grenzen, wo man sagen kann: Das ist katholisch oder nicht, das ist christlich oder nicht.

Wenn wir über geistlichen Missbrauch und Autonomie sprechen, geht es vielmehr darum, dass Menschen ihr Glaubensleben frei führen dürfen. Wenn ein Mensch aufhört, in den Gottesdienst zu gehen, oder eine bestimmte Gebetstradition zugunsten einer anderen beendet, wer hätte ein Recht, diese Person davon abzuhalten?

Was sind mögliche Folgen spirituellen Missbrauchs?

Eine Person, die erlebt hat, dass das spirituelle Leben benutzt wird, um sie unfrei zu machen und sie zu verletzen, läuft Gefahr, dass sie sich in diesem Bereich ihres Lebens nicht gut entwickelt. Sie schiebt dann vielleicht alles, was mit Spiritualität zu tun hat, weg, gleichzeitig leidet sie darunter, weil sie das eigentlich braucht in ihrem Leben. Manchmal sind echte Traumata die Folge, sodass Menschen psychisch lange darunter leiden und eine Behandlung nötig ist.

Oft hört man, sexuellem Missbrauch gehe spiritueller Missbrauch voraus. Können Sie das anhand eines Beispiels erläutern?

Typisch ist ein Priester, der eine geistliche Bewegung oder Gemeinschaft gründet, er hat die Aura einer Gründerfigur, und dann schreibt er jungen Leuten in dieser Gemeinschaft eine Spiritualität vor, in der es darum geht, Grenzen zu überschreiten. Dinge aufzugeben, die man niemals hätte aufgeben wollen, weil Gott eben mehr von ihnen verlangt. Der Priester verlangt dann zum Beispiel, dass ein Mitglied das Familienfoto wegwerfen soll, weil Gott will, dass es ganz frei davon wird. Auf solche geistlichen Übergriffe können sexuelle folgen: «Gott will, dass wir keine Grenzen voreinander haben. Du musst bereit sein, dich zu entkleiden, körperliche Berührungen zuzulassen». Das funktioniert nur, wenn man vorher schon andere Grenzen heruntergerissen hat.

In diesem Beispiel verwechselt der Geistliche zudem seine Stimme mit der Stimme Gottes, wie Klaus Mertes spirituellen Missbrauch definiert.

Es gibt Täter:innen, die tatsächlich glauben, dass Gott das von ihnen will, dass sie das müssen oder dürfen. Es gibt aber auch solche, die genau wissen, dass das nur eine Erzählung ist, die sie dazu benutzen, um andere zu missbrauchen. 

Kann spiritueller Missbrauch geahndet werden?

Wir haben keine vernünftigen kirchenrechtlichen Grundlagen, um Sanktionen zu ergreifen. Es gibt viele Übergriffe, die kirchenrechtlich sogar verlangt werden. Wir brauchen daher vor allem eine Sensibilisierung in Form von Qualitätsstandards in der Seelsorge: Es muss ganz klar sein, was geht und was nicht. Damit Vorgesetzte sensibel sind, wenn etwa im Erstkommunionunterricht verlangt wird, dass die Kinder gegenseitig bei einander probebeichten sollen, oder wenn im Religionsunterricht abgefragt wird, wer den Gottesdienst besucht hat.

Das Bistum Basel verweist für Fälle spirituellen Missbrauchs an eine unabhängige Koordinationsperson. Dies ist eine Rechtsanwältin. Diese ist verpflichtet, bei Verdacht auf ein Offizialdelikt den Bischof aufzufordern, Strafanzeige zu erstatten. Für wie sinnvoll halten Sie dies?

Spiritueller Missbrauch ist im weltlichen Recht an keiner Stelle geklärt. Die Engführung, dass es um Straftaten gehen muss und dass dann Strafverfahren geführt werden müssen, ist nicht unbedingt das, was bei spirituellem Missbrauch nötig ist. Solche Verfahrenswege können dann schnell dazu führen, dass man sagt: «Das ist nicht relevant.» Wer spirituellen Missbrauch in eine rechtliche Kategorie schiebt, nimmt nicht ernst, dass da eine Verletzung vorliegt und eine echte Gefahr durch die beschuldigte Person im Raum steht.

Braucht es also eigene Anlaufstellen oder Ansprechpersonen für spirituellen Missbrauch?

Es kann genügen, wenn man die Anlaufstellen für sexuellen Missbrauch so ausbaut, dass sie auch für spirituellen Missbrauch kompetent sind. Dazu braucht es theologisch und seelsorgerlich geschulte und pastoralpsychologisch ausgebildete Menschen. Allerdings brauchen auch diese Personen eine normative Grundlage,  sodass man sagen kann, nach diesen oder jenen Kriterien definieren wir «Übergriff».

Das Bistum Chur hat einen Verhaltenskodex. Könnte das eine solche normative Grundlage sein?

Das ist ein erster, fundamentaler Schritt. Zu klären wäre dann noch, wie die Charta umgesetzt wird und wie sich das in das Gesamtrecht der katholischen Kirche einfügt.

Was wären aus Ihrer Sicht weitere nötige Schritte in der Prävention?

Der allerwichtigste Schritt wäre, dass die Kirche ihre eigenen Normen überdenkt. Dass alle diese Bereiche, die einen Übergriff in das Innenleben von Menschen normalisieren, gestoppt werden.

Das wäre eine Veränderung des Kirchenrechts, aber auch der Glaubenslehre.

Bei der Glaubenslehre bräuchte es eine Harmonisierung der beiden sich widersprechenden Traditionen. Die Kirche ist an einem historischen Entscheidungspunkt: Steht sie dafür, dass Menschen in die Spur gebracht werden müssen, notfalls mit Gewalt? Oder steht sie dafür, dass Menschen in Freiheit einen Glauben leben, der wirklich von Gott kommt, der gar keine Gewalt braucht? Die Entscheidung für letzteres wäre notwendig, um wirksam Prävention zu betreiben.

Sehen Sie Ansätze, dass die Kirche sich in diese Richtung entwickelt?

Ich glaube, dass die Institution gar nicht in der Lage ist, sich in diese Richtung zu entwickeln. Und trotzdem entwickeln sich Teile der Kirche in diese Richtung. Es gibt ein echtes Auseinanderdriften der Kirche, das man beklagen kann, das aber unvermeidlich ist. Die Herausforderung wird sein, dass die Menschen, die in eine freiheitliche Richtung gehen wollen, sich selber ein institutionelles normatives Gefüge geben müssen, aber eines, das dieser Freiheitlichkeit entspringt und sie trägt.

Viele Seelsorgende leiten Pfarreien und sind somit auch Vorgesetzte. Spannungen mit dem Chef/der Chefin gehören zum Berufsalltag. Wie ist das zu bewerten, wenn ein Seelsorger seiner Sekretärin in einem Konfliktfall rät, das Evangelium zu konsultieren? 

Dieses Vergeistlichen von Konflikten ist ein grosses Problem in der Kirche. Wenn Vorgesetzte in einem Konflikt auf der Arbeitsebene keine Sachargumente haben, wechseln sie oft auf die geistliche Ebene. Damit weichen sie dem aus, worum es eigentlich geht.

Würden Sie das auch spirituellen Missbrauch nennen?

Das hängt vom Einzelfall ab. Wenn es um Überstunden geht, die nicht ausbezahlt wurden, obschon die Sekretärin ein Recht darauf hätte, ist das kein geistlicher Missbrauch. Aber wenn ich in einer Gemeinschaft lebe und mir Nahrung oder Medikamente verweigert werden mit dem Hinweis, dass das eine Form von Kreuzesnachfolge oder Hingabe ist, dann ist das ein manifester geistlicher Übergriff.

* Die Praxis zur Hinführung zum Sakramentenempfang ist im Bistum Basel nicht starr vorgeschrieben. In vielen Pfarreien wird das Sakrament der Versöhnung nach der Erstkommunion gefeiert.

Die Theologin Doris Reisinger (geb. Wagner, *1983) ist Autorin der Buches «Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche» und Beraterin der Anlaufstelle «Gewalt in der Kirche» der deutschen Bischofskonferenz.

 

Erst am Anfang

«Beim Thema spirituelle Gewalt sind wir erst am Anfang», sagte Bischof Joseph Bonnemain laut dem Portal kath.ch an einer Fachtagung in Wien. Die Richtlinien der Schweizer Bischofskonferenz sollen dahingehend überarbeitet und ergänzt werden. «Das Bistum Basel konzeptioniert gerade Vertiefungsseminare, die die Prävention von spiritueller Gewalt mitberücksichtigen», sagte Sieglinde Kliemen, Präventionsbeauftragte dieses Bistums, an derselben Tagung. Ansprechpersonen explizit für spirituellen Missbrauch kennt nur das Bistum St. Gallen. Das Bistum Basel verweist auf die unabhängige Koordinationsperson, Chur auf das Fachgremium sexuelle Übergriffe und staatliche Opferhilfestellen. Die Betroffenenorganisation IG Miku unterstützt Betroffene auch bei spirituellem Missbrauch.