Religion macht immer weniger Schule
Wo der Schulraum knapp wird, muss der Religionsunterricht Platz machen. Das bedauern die einen, andere sehen in der Verlagerung in die Pfarrei Vorteile. Die Fachpersonen sagen: Beides geht. Entscheidend bleibe die Familie.
Singen zur Einstimmung: Erstklasskinder im «Unti» in der alten Klosterkirche Sursee. Bild: Roberto Conciatori
Samstagmorgen in der Klosterkirche Sursee. Dreissig Erstklasskinder stehen im Kreis, einige Eltern in den Bänken, alle singen: «Ich gspöre e Chraft i mer, zwösche dir und mir. Und wenn i Froge ha, bisch du immer för mich da.» Religionspädagogin Carina Wallimann begrüsst alle mit Namen und lässt ein Kind die Osterkerze anzünden. Heute, am 11. November, geht es um den heiligen Martin, in Sursee ist Gansabhauet. «Was ist denn das, ein Heiliger?», fragt Wallimanns Kollegin Gerda Kaufmann. Die Gans in ihrem Arm, eine Puppe, schnattert drauflos: «Ein Heiliger ist ein Mensch, durch den die Sonne scheint.» Die Kinder lachen.
Nach der kurzen Feier teilen sich die Kinder in drei Gruppen auf. Sie basteln Gänse aus Papier, beantworten in einem Würfelspiel Fragen zu Sankt Martin und erzählen dessen Geschichte mit Bildern nach, die sie legen. Im einen Raum teilt Wallimann Äpfel in Schnitze und bietet Weggli zum Halbieren an. Warum sie dies wohl tue, fragt sie. David, eines der Kinder, antwortet umgehend: «Damit wir teilen können.» Wallimann gibt ihm zurück: «Du hast das Wichtigste des heutigen Tages verstanden.»
Schule kündigt Räume
Fünf Halbtage wie den heutigen erleben die Surseer Erstklasskinder in diesem Schuljahr; in den höheren Klassen sind es mehr Stunden. Diese Form des Religionsunterrichts ist auf der Primarstufe neu, Sursee allerdings nur eine von vielen Pfarreien im Kanton Luzern (siehe Kasten), die in den letzten Jahren aus den Schulhäusern verdrängt wurden. Vor gut einem Jahr kündigte die Schule Sursee der Pfarrei wegen Platzmangels die Räume in den drei Stadtschulhäusern, auf das laufende Schuljahr hin zog die Kirche aus. Seither haben die Kinder blockweise Religionsunterricht in Räumen der Pfarrei und nicht mehr in Randstunden im Schulzimmer.
So hat der heilige Martin seinen Mantel geteilt: Religionspädagogin Carina Wallimann mit Erstklass- kindern in der Klosterkirche Sursee. | Bild: Roberto Conciatori
«Das ist eine Chance»
Ist der Religionsunterricht damit zu einem von vielen Freizeitangeboten geworden? Dies werde oft gefragt, sagt Wallimann, auch Teamleiterin Katechese der Pfarrei. Ihre Antwort: «Es gibt nicht mehr Abmeldungen als vorher.» In Religionsstunden im Schulhaus am späteren Nachmittag seien es sogar eher mehr gewesen. Für Wallimann überwiegen schon nach sechs Monaten die Vorteile. Die Gruppen seien grösser und beständiger. «Das gibt ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl.» Die Kinder seien interessierter, weil «Religion» nicht mehr eines von vielen Fächern im Stundenplan sei. Es gebe mehr Elternkontakte als vorher, mehr Mütter und Väter würden bei Feiern mithelfen, zumal auf den unteren Stufen. «Das ist eine Chance, Kirche neu zu leben», findet Wallimann. Gerade jungen Familien lasse sich so ein offeneres Kirchenbild vermitteln. Für Wallimann ist der ausserschulische Religionsunterricht deshalb auch «indirekte Erwachsenenkatechese». Zudem kämen Eltern untereinander in Kontakt und teilten ihre eigenen Erfahrungen.
Mehr Teamarbeit
Der Aufwand für die neue Unterrichtsform sei jedoch gross, räumt Wallimann ein. Es brauche mehr Teamarbeit, es gebe mehr Sitzungen, mehr zu organisieren. Da müssten mitunter Lerninhalte «klar ausgehandelt werden»; all dies sei gerade am Anfang «sehr aufwendig», «Knochenarbeit» auch. Wallimann freut sich andererseits, wenn sie feststellt, dass sich die unterschiedlichen Kompetenzen von Lehrpersonen in der Gruppe ergänzen.
Beteiligung sinkt
Ähnliche Erfahrungen wie Carina Wallimann macht Ursi Portmann. Sie ist mit ihrem Team schon im siebten Jahr ausserschulisch unterwegs. Portmann leitet die Fachstelle Religionsunterricht und Katechese in den vier Emmer Pfarreien, wo der Religionsunterricht seit 2017 in den Pfarreizentren stattfindet. Die neuen Angebote seien von «tiefgründigerer Qualität» als die vorherigen Unterrichtseinheiten in den Schulhäusern, das gewählte Modell sei verbindlicher. Die Kinder kämen denn auch «extrem gerne» in die Stunden, stellt Portmann fest.
Sie räumt aber auch ein, dass die Beteiligung abnimmt. Schrieben sich im Schuljahr 2017/18 rund 800 Kinder auf der Primarstufe ein, sind es im laufenden noch 600. Die Statistik bestätigt diese Entwicklung: In Emmen waren Ende 2017 52,5 Prozent der Bevölkerung katholisch, Ende 2022 (neuste Zahlen) noch 44,9 Prozent. In Sursee sank der katholische Bevölkerungsanteil in den gleichen Jahren von 62,5 auf 54,7 Prozent.
Portmann sieht diese Entwicklung nüchtern: «Wir machen ein Angebot und die Eltern sind frei, es zu nutzen.» Das Team gebe alles, um den Kindern und Jugendlichen lebendigen Glauben erfahrbar zu machen. Glaubensvermittlung sei aber grundsätzlich «Sache der Familie». Die Eltern stünden in der Pflicht, fügt Carina Wallimann an: «Die Mütter und Väter müssen sagen, ob es ihnen wichtig ist, ihr Kind im Glauben zu begleiten und begleiten zu lassen.»
Mit Schere und ein bisschen Leim entsteht in wenigen Minuten eine Martinsgans. | Bilder: Roberto Conciatori
«Für immer weg»
Für Gaby Aebersold ist dies der entscheidende Punkt. Sie ist mit Gabrijela Odermatt im Fachbereich Pastoral der Landeskirche für den Bildungsgang Katechese verantwortlich. Wichtig sei die religiöse Bindung eines Kindes in der Familie. «Da ist es zweitrangig, wo und wie der Religionsunterricht stattfindet.» Odermatt hängt dieser Aussage ein Aber an: «Kinder, die nicht oder nicht mehr in den Religionsunterricht in der Pfarrei kommen, sind für immer weg.» Als Menschen blieben sie ja religiös, aber es müsste etwas Besonderes im Leben passieren, dass sie damit in die Kirche fänden, sagt Odermatt. Der Unterricht sollte deshalb so lange wie möglich an der Schule bleiben, wo die Verbindlichkeit grösser sei.
«In zehn Jahren raus»
In rund 45 Prozent der Luzerner Pfarreien findet der Religionsunterricht mittlerweile auf der Primarstufe ganz in der Pfarrei oder nur noch teilweise in der Schule statt. Auf der Oberstufe kann nur noch ein Viertel der Pfarreien Stunden und Räume in den Schulhäusern belegen. Dies hat eine Umfrage des Fachbereichs Pastoral der Landeskirche ergeben. Der Trend: Weg vom Lernort Schule, hin zum Lernort Pfarrei.
«Wenn das so weitergeht, sind wir in zehn Jahren aus den Schulen raus», sagt Gabrijela Odermatt, die im Fachbereich Pastoral der Landeskirche mit Gaby Aebersold den Bildungsgang Katechese leitet. Sie bedauert diese Entwicklung, räumt aber auch ein, eigentlich nicht zu wissen, welcher Lernort besser sei. Auch Aebersold findet, die beiden Formen sollten nicht gegeneinander ausgespielt werden: «Wer an der Schule in einem guten Umfeld unterrichtet, möchte dort bleiben. Wer aber den Schritt aus der Schule bereits getan hat, ist meist angetan von den neuen Möglichkeiten.»