Sprachliche Freiheiten nutzen

Die Sprache in Gottesdiensten klingt für viele veraltet. Dabei wäre in Wortgottesdiensten vieles möglich, sagt Liturgiewissenschaftlerin Birgit Jeggle-Merz von der Uni Luzern. Sie ermutigt zu anderen Formulierungen.

Von Sylvia Stam |  29.12.2023

Beim Wortgottesdienst hätten Liturg:innen sprachlich grosse Freiheiten, sagt Birgit Jeggle-Merz, Liturgiewissenschaftlerin in Luzern und Chur. Bild: Emmanuel Ammon

Zu Beginn der Messe sagt der Priester: «Der Herr sei mit euch.» Die Gemeinde antwortet: «Und mit deinem Geiste.» Woher kommen solche Formulierungen?
Birgit Jeggle-Merz: Fast alle Redewendungen, die in der Liturgie vorkommen, sind biblisch begründet. «Der Herr sei mit euch» ist eine Grussformel, die wir schon im Alten Testament vorfinden: Wir grüssen im Gegenüber auch die göttliche Dimension. Gemeinde und Zelebrant:in vergewissern sich gegenseitig, dass sie im Heiligen Geist zusammen sind. In der süddeutschen Grussformel «Grüss Gott» schwingt diese göttliche Dimension noch mit. 

Wie verbindlich sind solche Redewendungen? 
Für die Eucharistiefeier sind sie verbindlich. Bei anderen Gottesdienstformen, etwa dem Wortgottesdienst, ist die Verbindlichkeit viel geringer. Hier hätten Zelebrant:innen die Freiheit, andere Formulierungen zu wählen. Aber in der Praxis orientieren sich viele Liturgieverantwortliche nahezu ausschliesslich an Eucharistiefeiern und nutzen ihre Wahlmöglichkeiten nicht. 

Wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass jemand mit der Eucharistiefeier vertraut ist.Birgit Jeggle-Merz

Ist das eine Ermutigung an Liturg:innen von Wortgottesdiensten?
Unbedingt! Ich höre immer wieder: «Ja, aber die Gottesdienstbesucher:innen erwarten, dass eine Feier aussieht wie eine Messe, weil sie nur das kennen.» Wir können heute nicht mehr davon ausgehen, dass jemand mit der Eucharistiefeier vertraut ist. Diese zum Massstab zu nehmen, ist sehr einseitig. Manchmal fehlt das Bewusstsein für die Freiheit, die man hat und die man den Mitfeiernden zumuten kann. 

Im Pastoralraum Hürntal wurden einige der Formulierungen in einem Prozess mit den Pfarreimitgliedern abgeändert. Ist das erlaubt?
Im Rahmen der Eucharistiefeier dürfen sie das strenggenommen nicht. Im Rahmen von Wortgottesfeiern ist alles möglich. Statt «Der Herr sei mit euch» wird im Pastoralraum Hürntal nun «Christus sei mit euch» gesagt. Da Christus tatsächlich angesprochen ist, ist das eine angemessene Neuformulierung. Ebenso das «Und mit dir» anstelle von «Und mit deinem Geiste». 

Dann könnte jede:r Seelsorger:in in einem Wortgottesdienst diese Formulierungen ändern?
Ich würde sagen: jede Gemeinde. Die vorstehende Person geht ja «nur» im Gebet voran. Ihr gehören die Gebete nicht. Darum ist der begleitende Prozess mit den Gläubigen sehr spannend und wichtig. Das ist eine Form von Kirchenentwicklung. Man müsste dann zu einem späteren Zeitpunkt überprüfen, ob die neuen Formulierungen noch stimmig sind. 

Warum wird die Freiheit, andere Formulierungen zu wählen, so wenig genutzt?
Selbst wenn wir dieses Bewusstsein zu vermitteln versuchen, ist der Schritt, das in der Praxis zu verändern, riesig. Ich bin überzeugt, dass das auch im Pastoralraum Hürntal ein langer Prozess mit intensiver Auseinandersetzung war. Der Prozess an sich ist schon wertvoll und bestimmt auch fruchtbar.

Liturgischer Gebetssprache liegen biblische Texte oder Bilder zugrunde. Was tun, wenn die Gottesdienstbesuchenden mit diesen nicht mehr vertraut sind?
Dazu braucht es liturgische Bildung. Diese liegt in der Verantwortung der hauptamtlichen Mitarbeiter:innen. Sie könnten das zum Beispiel in einer Predigt thematisieren. 

Ich muss nicht alles mit dem Verstand verstehen. Es geht um eine Ästhetik, sodass das, was gefeiert wird, zum Ausdruck kommt.Birgit Jeggle-Merz

Nur sehr wenige Gläubige gehen jeden Sonntag in die Kirche. Was, wenn jemand genau diese Predigt verpasst hat?
Ich bin überzeugt, dass sich vieles im Feiern erklärt. Als Zelebrantin muss ich mich fragen: Wie kann ich das, was gefeiert werden soll, zum Ausdruck bringen? Wer zelebriert, hat die Aufgabe, ein Gebet in einer Haltung der Feierlichkeit zu beginnen, also mit einer gewissen Präsenz und Dichte. Das überträgt sich auf die umstehenden Ministrant:innen, sodass auch die Mitfeiernden in diese Intensität kommen können. Dadurch erläutert sich vieles. Ich muss nicht alles mit dem Verstand verstehen. Es geht um eine Ästhetik, sodass das, was gefeiert wird, zum Ausdruck kommt. 

Wenn diese Haltung gelingt, kann das Geschehen auch für Menschen, die den biblischen Hintergrund nicht haben, verständlich werden? 
Ja. Das Wort selber hängt davon ab, mit welcher Intention es gesprochen wird. Ich will damit nicht sagen, dass die pastoralen Mitarbeiter:innen nicht spirituell sind. Aber es gehört zur Kunst des Feierns, dass die Liturg:innen sich intensiv Gedanken dazu machen. Deswegen finde ich solche Prozesse wie in Hürntal toll. Denn das hat Auswirkungen auf alle. Wenn nur 30 bis 40 Personen diesen Prozess mitgemacht haben, können die anderen davon profitieren. Das wird die Gottesdienste verändern.

Warum ist in der Eucharistiefeier die Sprache so verbindlich?
Bei der Eucharistie geht es um das Sakrament der Einheit. Um diese Einheit zu wahren, soll über alle katholischen Gemeinden hinweg grösstmögliche Gleichheit herrschen. Papst Benedikt XVI. legte viel Wert darauf, dass die Liturgie den lateinischen Charakter behält, damit die Tradition gewahrt ist. Papst Franziskus sagt, Tradition sei kein Museum, sondern etwas Lebendiges. Wir müssen Tradition auch lebendig interpretieren.

Was bedeutet «Tradition lebendig interpretieren»?
Diese Frage wird bei der nächsten Übersetzung des Messbuchs ins Deutsche relevant. Da werden wir vieles aus der Tradition aufnehmen wollen und müssen trotzdem auch eine Sprache suchen, die heutige Menschen verstehen. Der Pastoralraum Hürntal hat nicht entschieden, den Gruss vor dem Evangelium ganz wegzulassen. Sie haben verstanden, dass es etwas anderes ist, ob ich sage: «Wir hören jetzt ein Wort aus dem Evangelium», oder ob ich eine Formulierung voranstelle, die ausdrückt: «Wir hören dieses Wort im Bewusstsein, dass Christus unter uns ist.» Die genaue Formulierung ist letztlich nicht entscheidend. Wichtig ist, dass ich wahrnehme, dass sich das Hören verändert, wenn ich eine solche geistliche Dimension auch erwähne. 

Erstveröffentlichung im «pfarrblatt» Bern

Zeitgemäss von Gott reden

Im Pastoralraum Hürntal (Pfarreien Dagmersellen und Uffikon-Buchs wurden die Texte, die im Gottesdienst im Wechsel zwischen Zelebrant:in und Gemeinde gesprochen werden, überarbeitet. Das Liturgieteam bezog in einem zweijährigen Prozess den Pastoralraumrat und die Pastoralraumversammlung ein, begleitet von der Theologin und Autorin Jacqueline Keune. Seit Pfingsten 2023 werden die neuen Formulierungen in allen Gottesdiensten gesprochen. Sie sind auf einem Zettel im Gesangbuch eingeklebt und laut Pastoralraumleiter Andreas Graf nicht endgültig: «Wir haben nicht den Anspruch, unsere Fassungen seien die einzig richtigen.» Aber man wolle «so von Gott reden, dass es heutige Menschen verstehen».