Viele Austritte und wenig Taufen

Im Jahr 2023 haben doppelt so viele Schweizer Katholik:innen ihre Kirche verlassen wie im Vorjahr. Die Austrittszahlen stiegen nach Publikation der Missbrauchsstudie im Herbst 2023 sprunghaft an. 

Von Sylvia Stam |  27.12.2024

Herausforderung für die Kirchen: Hohe Austrittszahlen und fehlende Taufen führen zu sinkenden Mitgliederzahlen. | Bild: Michael Bogedain, Pfarrbriefservice.de

Der Effekt ist offensichtlich: Nach der Publikation der Missbrauchsstudie in der katholischen Kirche im September 2023 kam es zu einer grossen Austrittswelle, erläuterte Arnd Bünker, Leiter des Schweizerischen Pastoralsoziologischen Instituts (SPI), Mitte November 2024 gegenüber den Medien. Konkret haben 2023 gut 67 000 Personen der katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Im Jahr davor waren es gut 34 000 (siehe Kasten). 

Zu diesen hohen Zahlen kommt allerdings ein seit Jahren anhaltender Trend an Austritten aus den beiden grossen Landeskirchen, bedingt durch Säkularisierung und Individualisierung. Diese Entwicklung kann auch die Zuwanderung, von der die römisch-katholische Kirche bis 2014 profitierte, nicht aufhalten. Seit 2015 wird die Anzahl Katholik:innen in der Schweiz kleiner. Aktuell sind es noch 2 795 067 Mitglieder, 93 233 weniger als im Vorjahr. 

Doppelt negativer Trend

Doch damit nicht genug: Für die sinkenden Mitgliederzahlen sind nicht nur Austritte verantwortlich, sondern auch die zunehmende Entfremdung von Menschen, die formal noch Kirchenmitglieder sind, jedoch nicht am kirchlichen Leben teilhaben. «Sie geben die Zugehörigkeit zur Kirche in ihrer Familie immer weniger weiter», so Bünker. Dies wird sichtbar an der ebenfalls rückläufigen Anzahl kirchlicher Hochzeiten und Taufen. «Nicht getaufte Kinder sind ein vorweggenommener Kirchenaustritt», so Bünker. Damit ende eine jahrhundertelange familiäre Tradition der Weitergabe von Glaubenstradition und Kirchenzugehörigkeit. 

Die beiden Vertreter der katholischen Kirche, der St. Galler Bischof Markus Büchel und RKZ-Generalsekretär Urs Brosi, hielten beide in ihren Statements fest, dass die Aufklärungs- und Präventionsarbeit dennoch der richtige Weg sei. «Es gibt für uns kein Zurück», sagte Urs Brosi. «Prävention von Missbrauch, ein aufrichtiger Umgang mit Betroffenen sowie konsequentes Handeln gegenüber Tätern» müssten gemeinsam vorangebracht werden. «Wir haben die Warnung gehört und ernst genommen, die aus diesen Zahlen spricht.» Brosi gewichtet die seit Jahren anhaltenden Austrittszahlen und die fehlenden Taufen jedoch mehr als die Austrittswelle nach der Missbrauchsstudie. «Wir sehen nicht, wer aus welchen Gründen seine Kinder nicht mehr taufen lässt.»

Bescheidener werden

Markus Büchel übte Selbstkritik: Die Kirche habe ihre pastoralen Gewohnheiten zu lange fortgesetzt, «ohne uns ausreichend auf die Fragen der Menschen heute einzulassen». Darum sei die Kirche nun für viele irrelevant, jetzt müsse sie bescheidener werden. Rita Famos, Präsidentin der evangelischen Kirche Schweiz, musste zur Kenntnis nehmen, dass die Austritte aus ihrer Kirche nach Erscheinen der katholischen Missbrauchsstudie ebenfalls zunahmen, insgesamt um ein Drittel mehr als 2022. Sie sucht den Fehler jedoch nicht nur bei der katholischen Kirche. «Es ist uns in vielen Fällen nicht gelungen, glaubwürdig, relevant und nahe bei den Menschen zu sein.»

«Wir schauen nicht einfach zu. Aber die Welle kann man tatsächlich nicht stoppen.»Urs Brosi, Generalsekretär der RKZ

Auf die Frage einer Journalistin, ob die Kirchen die steigenden Austrittszahlen einfach so hinnähmen, entgegnete Brosi: «Der Berg rollt und wir können ihn nicht stoppen.» Die Kirche könne sich aber fragen, wo sie näher bei dem sein könne, was Menschen von der Kirche erwarteten. Rita Famos hielt dem entgegen, dass die evangelische Kirche sich schon lange auf den Weg gemacht habe durch Strukturbereinigungen, individuellere Gottesdienstformate und Taufrituale, Kirche auf der Strasse usw. «Wir schauen nicht einfach zu.» Aber die Welle könne man tatsächlich nicht stoppen. 

Engagement von Freiwilligen 

In ihrer Präsentation dieser düsteren Resultate betonten die Kirchenvertreter das Engagement von Freiwilligen, welches durch die Missbrauchsstudie nicht sichtbar beeinträchtigt wurde. «Trotz der Schockwellen, welche die die Pilotstudie bei vielen Menschen ausgelöst hat», sei 2023 statistisch kein damit verbundener Rückgang der Zahl freiwillig Engagierter festzustellen, so Bünker. Er berief sich dabei auf Erhebungen, die das Bistum St. Gallen zur Freiwilligenarbeit gemacht hat, und bezeichnete diese als repräsentativ für die ganze Schweiz. Dem Entsetzen über die Missbrauchsfälle stünden bei den Freiwilligen positive Erfahrungen in der Kirche vor Ort gegenüber, welche offensichtlich stärker gewichtet wurden. Dennoch ist auch bei den freiwillig engagierten der Trend insgesamt rückläufig.

Kirchenstatistik 2023

Römisch-katholische Kirche

  • Austritte: 67 497 (2022: 34 561)
  • Eintritte: 1004 (2022: 1080)
  • Trauungen: 2234 (2022: 2472)
  • Taufen: 15 142 (2022: 17 095)
  • Mitglieder: 2 795 067 (2 888 300)

Evangelisch-reformierte Kirche

  • Austritte: 39 517 (2022: 30 393)
  • Eintritte: 1987 (2022: 1683)
  • Trauungen: 1897 (2022: 2337)
  • Taufen: 8223 (2022: 9865)
  • Mitglieder: 1 862 689 (1 926 637)

Details: kirchenstatistik.ch