Vom heiligen Kreuz stammend – vielleicht
Was geschah mit dem Kreuz, an das Jesus vor 2000 Jahren genagelt wurde? Darum rankt sich eine Legende, die auf das Jahr 325 zurückgeht. Sie ist auch der Ursprung der Heiligkreuz-Volksfrömmigkeit.
Urs-Beat Frei, Konservator des Stiftsschatzes in der Luzerner Hofkirche, mit dem Kreuz, in das eine Partikel vom Kreuz Jesu eingelassen sein soll. Dominik Thali
Reliquien, vom lateinischen reliquiae, etwas Zurückgelassenes, gibt es von Heiligen und Märtyrer:innen zuhauf: Knochen, Schädel, Gegenstände aus dem persönlichen Besitz. In vielen Kirchen sieht man dergleichen in den Altar eingelassen.
Reliquien von Jesus hingegen gibt es nicht. (K)ein Wunder: Der Sohn Gottes ist nach christlichem Glauben auferstanden und kehrte 40 Tage später leibhaftig zu seinem Vater in den Himmel zurück. Umso mehr ranken sich Legenden um die Dornenkrone Jesu, um seine Tunika, um das Grabtuch – und das Kreuz, an das ihn Pilatus nageln liess.
850 Jahre altes Zeugnis
Ein besonderes Zeugnis der Heiligkreuz-Frömmigkeit ist das sogenannte Eschenbach-Kreuz, das zum Stiftsschatz in der Luzerner Hofkirche gehört. In dieses ist, hinter dem oberen der vier runden «Fenster», ein Holzsplitter eingefügt, kleiner als ein Daumennagel. «Vom heiligen Kreuz stammend», heisst es auf dem beigelegten Zettelchen, mit roter Tinte geschrieben. Das Kreuz ist nach seinem Stifter Ulrich von Eschenbach benannt und rund 850 Jahre alt. Die Jahrzahl 1171 findet sich auf der Rückseite eingraviert. Der Splitter sei damit die wohl älteste sogenannte «Partikel vom Kreuz Christi», die es in der Zentralschweiz gebe, sagt Stiftskonservator Urs-Beat Frei.
Ob das winzige Stück Holz wirklich vom Kreuz Jesu stammt? Frei bezweifelt es und zitiert den heiligen Bernhardin von Siena, von dem aus dem 15. Jahrhundert die Aussage überliefert ist: «Sechs Paar Ochsen vermöchten die Last nicht zu ziehen, wenn man alle [angeblichen Kreuzpartikel] zusammenfügte. Das ist das Machwerk von Betrügern.»
«Man braucht Brille und Lupe, um es zu sehen»: Jakob Zemp, Wallfahrtspriester in Heiligkreuz im Entlebuch, mit der Monstranz, in deren rotes Kreuz eine winzige Kreuzpartikel eingearbeitet ist. | Bild: Dominik Thali
«Das würde ich unterschreiben», meint dazu Jakob Zemp, Priester des Wallfahrtsorts Heiligkreuz im Entlebuch. Dort birgt die Monstranz, die auf dem Altar steht, ebenfalls eine Kreuzpartikel, allerdings so klein, «dass man neben der Brille noch eine Lupe braucht», wie Zemp schmunzelnd sagt. Er verwendet die Monstranz regelmässig, wenn er Pilgergruppen den Segen spendet.
Zweifel an der Echtheit
Die Verehrung des Kreuzesholzes setzte ein, nachdem die heilige Helena gemäss einer Legende um das Jahr 325 das Jesuskreuz in Jerusalem auffand (siehe Kasten). Schon bald tauchten Kreuzpartikel an immer mehr Orten auf, weshalb schnell Zweifel an deren Echtheit wuchsen. Diese wurden noch grösser, als die Kreuzritter nach der Eroberung Jerusalems 1199 und der Plünderung Konstantinopels 1204 grosse Mengen von Holzstückchen mit nach Hause brachten, die sämtlich vom verehrungswürdigen Kreuz stammen sollten. Stiftskonservator Urs-Beat Frei findet es aber «immerhin bemerkenswert», dass die Kreuzpartikel im Eschenbach-Kreuz aus der Zeit vor den Kreuzzügen stamme.
Wertvoller als Gold und Silber
Der Splitter liesse sich wahrscheinlich mit der wissenschaftlichen Methode der Dendrochronologie datieren. Das Ergebnis könnte den Glauben festigen – oder aber zerstören. Frei, der selbst die Holzart nicht kennt, weiss darum. Ob echt oder «Machwerk von Betrügern» ist für ihn wie für Zemp indessen zweitrangig. Kreuz und Monstranz seien in frömmigkeitsgeschichtlicher Hinsicht bedeutsam. Und nicht allein des Goldes und Silbers wegen wertvoll, aus dem sie gefertigt sind.
Das Eschenbach-Kreuz des Stiftsschatzes in der Luzerner Hofkirche. Die Kreuzpartikel befindet sich
hinter dem Glas an der Spitze. | Bild: Dominik Thali
Wallfahrts- und Kraftort
Zemp erzählt von der Heiligkreuz-Legende; vom wilden Ochsen, der sich einzig durch eine aufgelegte Kreuzpartikel besänftigen liess, dann von der französischen Stadt Arras bis ins Entlebuch trottete und sich schliesslich an der Stelle der heutigen Wallfahrtskirche niederlegte, wo die Hirten der Umgebung ein erstes Bethäuslein errichteten. Das soll sich um das Jahr 330 zugetragen haben. Belegt ist die Entstehungsgeschichte von Heiligkreuz allerdings erst seit 1340.
Seither suchen Menschen hier Stärkung und versammeln sich vor wichtigen Entscheiden. «Heute sagt man, Heiligkreuz sei ein Kraftort», erklärt Jakob Zemp. Ob so oder als Wallfahrtsort bezeichnet: Die Menschen kämen nicht mehr wegen der Holzpartikel nach Heiligkreuz, sondern «weil sie hier Kraft schöpfen können», so Zemp. Und er berichtet von einer Frau aus dem Bernbiet, die ihn jüngst gebeten habe, in nächster Zeit immer wieder eine Kerze für sie anzuzünden. Solche Erfahrungen macht der Wallfahrtspriester immer wieder. «Die Menschen wissen: Ich bin nicht allein mit meinen Sorgen. Heiligkreuz ist ein Ort, wo sie diese bewusst jemandem anvertrauen können.»
- Grundlage für diesen Text bildet ein Beitrag, den Stiftskonservator Urs-Beat Frei 2021 für die Zeitschrift «Sonntag» schrieb.
- Führungen und Informationen: luzern-kirchenschatz.org
Die Heiligkreuz-Tage
Mit dem Kreuz, an dem Jesus
starb, sind die Kirchenfeste der Kreuzauffindung (3. Mai) und der Kreuzerhöhung (14. September) verbunden. Beide werden seit der Neuordnung des liturgischen Kalenders 1960 am 14. September begangen. Die Kreuzauffindung erinnert an die Überlieferung, dass die heilige Helena um das Jahr 325 in Jerusalem das Kreuz Jesu gefunden habe, die Kreuzerhöhung an den Bau der Grabeskirche ebendort 15 Jahre später.
Mit den Heiligkreuztagen ist viel Volksfrömmigkeit verbunden. Der Luzerner Volkskundler Josef Zihlmann (1914–1990) weist in seiner Sammlung «Sie rufen mich beim Namen» darauf hin, dass die beiden Tage bei den Bauern als Anfang und Ende des Sommers gegolten hätten. Darum werde zwischen den Kreuztagen in den Kirchen der Wettersegen erteilt: «Der Priester tut dies mit dem sogenannten Wetterkreuz, in dem Kreuzpartikel eingeschlossen sind.»
Zihlmann berichtet auch von Heiligkreuz-Bruderschaften in Willisau und Menznau. Die Menznauer hätten am 3. Mai jeweils sechs Kapuziner aus Schüpfheim gerufen. «Diese segneten nach dem Essen die Kräuter und gingen auf die Güter jener Bauern, die sie riefen, um Häuser und Fluren zu segnen.»