«Wir sorgen uns um die Seele»

Wer in Not ist, kann die Nummer 143 anrufen. Knapp 700 Freiwillige schweizweit hören bei der «Dargebotenen Hand» zu oder beantworten Mails. Zwei von ihnen erzählen.

Von Anouk Hiedl, «pfarrblatt» Bern |  29.05.2024

«Damit ein Gespräch gelingt, bin ich bereit, sehr viel zu geben», sagt Hemmy, die sich als Freiwillige bei Telefon 143 engagiert. «Ich kann auch Provokationen oder Beschimpfungen gut einstecken.» Bild: Pia Neuenschwander

Wie haben Sie die ersten Anrufe erlebt, die Sie selbständig begleitet haben?

Hemmy*: Anfangs hat es mich enorm Mut gekostet, den Hörer abzunehmen und mich dem zu stellen, was auf mich zukommt. Heute finde ich genau das spannend – ich weiss nie, auf welche Stimmung, welches Thema ich treffe.

Wesley*: Wir werden am Anfang gut ausgebildet und wissen, was kommen könnte. Dennoch war ich am Anfang sehr erwartungsvoll. Das ist auch heute noch so, diese Überraschung, dieses «Sensatiönchen», worauf ich treffe, wenn ich abnehme.

Welcher Anruf bleibt Ihnen unvergessen?

Hemmy: Vor drei Jahren meldete sich eine Jugendliche. Sie erzählte von ihrer grossen, aber ausweglosen Liebe, da die beiden jungen Menschen verschiedenen Freikirchen angehörten. Dieser Schmerz, diese Tragik, die mir damals entgegenkam, sitzt mir noch heute in den Knochen.

Wesley: Jemand rief an, um sich zu verabschieden. Er sagte, er stehe auf einem Stuhl mit einem Strick um den Hals und werde sich danach das Leben nehmen. Ich fragte ihn, ob er fürs Gespräch vom Stuhl steigen könne, da mich das beim Zuhören sehr belaste. Er meinte «Klar!» und hängte auf. Ich konnte nicht zurückrufen, da wir von unseren Anrufenden keine Nummern sehen. Eine Stunde später rief er wieder an – er hatte beim Runtersteigen irrtümlicherweise aufgehängt. Es entwickelte sich ein gutes Gespräch und wir machten ab, dass er sich tags darauf wieder bei Tel 143 melden würde.

Ich bin Anwältin jenes Teils des Menschen, der leben will.
Hemmy, Freiwillige beim Tel 143

Hemmy: In unserer vorgängigen Ausbildung lernen wir, Suizid zum Thema zu machen und uns auch nicht zu scheuen, nach den entsprechenden Plänen zu fragen. In solchen Gesprächen bin ich Anwältin jenes Teils des Menschen, der leben will. Diesen suche und erspüre ich und versuche, ihn zu stärken.

Wesley: Das ist immer eine Gratwanderung. Wir reden einen Suizidwunsch nicht aus, sondern erspüren und fragen nach, warum die Menschen noch da sind.

Sind Ihre Gespräche eher seelsorgerisch oder psychologisch?

Hemmy: Seelsorge ist für mich religiös konnotiert. Bei Tel 143 sind wir religiös neutral. Und doch, wir sorgen uns um die Seele und kümmern uns um seelische Notfälle … Für unsere Arbeit gibt es keinen punktgenauen Ausdruck.

Wesley: Psychologische Gespräche wiederum sind klinisch und mit Diagnosen oder Krankenkassen konnotiert – das sind wir bei Tel 143 auch nicht.

Was, wenn ein Gespräch nicht gelingt?

Hemmy: Wenn keine Verbindung zustande kommt und man aneinander vorbeigeredet hat, haben wir einen vertrauten internen Fachaustausch oder wir sprechen mit unserer Regionalstellenleiterin oder mit dem Verantwortlichen für unsere Ausbildung. Gemeinsam suchen wir, wo der Faden entglitten ist. Das hilft, das Gespräch einzuordnen.

Wesley: Wir wissen alle, dass es «das» richtige Gespräch nicht gibt. Hängt jemand mit «Arschloch» auf, dann frage ich mich, warum und ab wann das Gespräch nicht gelungen ist. Wir besprechen es in der Supervision. Vielleicht kam ich zu schnell mit Ratschlägen. Am Telefon sind wir keine Ratgeber:innen. Per Mail können wir das tun, Mails sind länger, ausführlicher als Briefe. Im Gespräch habe ich mich auch schon entschuldigt. Die anrufende Person kann entscheiden, ob sie weitermachen will oder nicht.
 

In der Not zum Telefon greifen und die Nummer 143 wählen. Quelle: guvi59/pixabay.com

Hemmy: Damit ein Gespräch gelingt, bin ich bereit, sehr viel zu geben, da bin ich ehrgeizig. Ich kann auch Pro-vokationen oder Beschimpfungen gut einstecken. Vielleicht braucht es diese in dem Moment. Wut weckt auch meine detektivische Neugier: Was steckt dahinter? Wenn trotz allem keine Verbindung entsteht, bin ich bemüht, das Gespräch zumindest gut und anständig abzuschliessen.

Wesley: Wir sind am Telefon immer sehr wach, hören gut zu und versuchen anzuknüpfen. Um Feinheiten zu bemerken, muss man präsent sein. Einige Anrufende melden sich öfter, manchmal über Monate oder Jahre hinweg. Dann frage ich mich jedes Mal, ob etwas Neues zutage kommen wird – welchen Aspekt kenne ich noch nicht?

Was haben Sie bei Tel 143 gelernt?

Wesley: Dass unsere Gesellschaft unglaublich bunt und alles Leid nur ein Ausschnitt davon ist. Das macht mich dankbar, dass es mir so gut geht.

Hemmy: Ich bin noch toleranter und viel differenzierter geworden. Andere zu beurteilen, ist nicht so einfach. In Diskussionen dazu stehe ich für die Vielfalt von Lebenswirklichkeiten und Perspektiven ein. Meine Erfahrungen bei Tel 143 machen meinen Blick, wie man etwas anschauen kann, reichhaltiger. Das Leben mit all seinen Facetten bewegt sich zwischen ganz vielen Grau- bzw. Farbtönen.

Wesley: Genau diese Buntheit ergibt sich erst aus der Summe aller Anrufe.

Was gab für Sie den Anstoss, bei Tel 143 mitzuarbeiten?

Wesley: Ich habe bis heute ein sehr gutes Leben. Ich fragte mich, was ich tun könne, um etwas davon weiterzugeben. Beim Erstgespräch merkte ich: Das ist eine sinnvolle Arbeit. Nach der Pensionierung fing ich hier an. Am Telefon stelle ich fest, dass viel Leid da ist. Das gilt es auszuhalten und eventuell eine andere Blickrichtung aufzuzeigen. Wir sind Zuhörer, Begleiterinnen und Motivierende, aber keine Therapeut:innen.

Hemmy: Belastbarkeit verpflichtet in unserer Gesellschaft dazu, Verantwortung zu übernehmen. Ich wollte mit meiner psychischen und physischen Gesundheit «etwas Gescheites» tun, das mich erfüllt. Menschliche Dissonanzen und andere Lebenswirklichkeiten interessieren mich, und mit meiner Schreibfreude bin ich fürs Beantworten von Chats und Mails an Tel 143 am richtigen Ort.

* Hemmy und Wesley arbeiten auf der Regionalstelle in Bern. Namen geändert. Alle Freiwilligen von Tel 143 bleiben anonym und unsichtbar.

Hemmy, 60, früher Kindergärtnerin, Didaktikerin und Heimleiterin, heute selbständig erwerbend, seit 2018 bei Tel 143.

Wesley, 81, früher Medienschaffender und im Erziehungswesen auch leitend tätig, ist seit 2012 bei Tel 143.

Offene Ohren und Herzen

Die Regionalstelle Zentralschweiz von Tel 143 wurde 1959 von den Landeskirchen gegründet. 60 Freiwillige unterstützen Hilfesuchende dort Tag und Nacht, seit 2011 auch per Mail und Chat. Für dieses Engagement braucht es eine «verantwortunsgsbewusste Persönlichkeit, die mit beiden Beinen im Leben steht und sich persönlich weiterentwickeln möchte», sagt Klaus Rütschi, Geschäftsführer der Regionalstelle Zentralschweiz. Häufige Anliegen seien Einsamkeit, Alltagsbewältigung und psychische Gesundheit. Pro Tag gehen rund 50 Anrufe ein, sie dauern im Schnitt 30 Minuten, zum Thema Suizid 2–3 Stunden. Letztes Jahr gingen 720 Anrufe zu diesem Thema ein. Die katholische Landeskirche Luzern trägt das Angebot finanziell mit.

Ausbildungskurs für Freiwillige in Luzern ab Oktober